Labyrinth 02 - Das Labyrinth jagt dich
aufzustehen, und er wollte diesen Moment nicht stören, aber er schlief jetzt nicht mehr. Er dachte nichts und sein Geist trieb davon, verloren in den Bildern seiner Erinnerung.
Das Licht im Gang war schwächer geworden und hatte begonnen zu flackern. Ein Knistern erfüllte die Luft, so als sei sie statisch geladen.
Und dann plötzlich begannen sich die Wände zu bewegen. Sie versanken nicht im Boden, sondern schienen an- und abzuschwellen, in einem gleichmäßigen Rhythmus zu pulsieren, als wären es keine Mauern, die einen Gang bildeten, sondern Blutadern, die sich zusammenzogen und wieder öffneten.
Von alldem bekam Jeb nichts mit.
Und dann war es genauso schnell wieder vorbei. Öde und leer erstreckte sich der Gang in beide Richtungen. Das Licht flackerte nicht mehr, sondern strahlte stumpf auf Jeb herab.
So lag er da, eingehüllt in bleierne Finsternis.
Nach einer Weile änderte sich eine Winzigkeit in seiner Umgebung. Ohne dass er sich dessen bewusst war, schlug Jeb die Lider auf. Zunächst war sein Blick verschwommen, aber dann fokussierten sich seine Augen auf etwas Kleines, das sich vor seinem Gesicht bewegte.
Jeb brauchte minutenlang, um zu erkennen, was es war.
Eine Ameise!
Das winzige Insekt lief unruhig kreuz und quer, so als suche es etwas, vielleicht eine Duftspur. Immer wieder blieb es stehen, hob den gepanzerten Kopf an. Dann bewegten sich eifrig die Fühler, aber es fand nicht, was es suchte, und setzte seinen ziellosen Marsch fort.
Eine Ameise!
Jeb beobachtete das Tier in seinem vergeblichen Bemühen. Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Er war im Labyrinth und die Ameise war es auch.
Wie kommst du hierher?
Die Ameise kümmerte sich nicht um ihn und ihm selbst fiel das Denken viel zu schwer, als dass er eine Lösung gefunden hätte. Er wollte in seinen weichen müden Kokon der Ahnungslosigkeit zurück, aber das Tun der Ameise hielt ihn gefangen.
Du bist wie ich. Suchst einen Weg aus diesem Labyrinth. Nur dass du noch eine Chance hast, ich habe aufgegeben. Gib du nicht auf, kleine Ameise.
Der letzte Satz erinnerte ihn an ein Kinderlied, aber weder kam er auf den Text noch auf die Melodie.
Plötzlich ertönte ein leiser Pfiff. Jeb versuchte, das Geräusch zu ignorieren. Er hatte das Interesse an der Ameise verloren und alles andere war ihm sowieso egal, er wollte nur eines – schlafen.
Wieder pfiff jemand. Jeb drehte mühsam seinen Kopf und entdeckte in wenigen Metern Entfernung einen menschlichen Schemen. Es war ein Mann, nicht besonders groß. Jeb blinzelte gegen das Licht, aber die Einzelheiten blieben ihm verborgen. Alles, was er sah, war ein schwarzer Umriss vor einem diffusen Hintergrund.
»Warum liegst du da?«, fragte eine Stimme.
»Großvater?«, fragte Jeb.
»Warum liegst du da?«
»Ich weiß nicht, Großvater.«
»Warum stehst du nicht auf?«
»Ich habe keine Kraft. Bin so schwach, möchte schlafen.«
»Warum fallen wir?«
Jeb ächzte. Er verstand den Sinn dieser Frage nicht. Sein Geist war dabei abzudriften und seine Augen fielen zu.
»Sieh mich an«, befahl die Stimme ärgerlich.
Jeb riss die Augen auf.
»Warum fallen wir?«
»Ich habe keine Ahnung«, krächzte Jeb.
»Wenn du nicht aufstehst, wirst du sterben.«
»Ist mir egal.« Jeb ließ sich zu Boden sinken. Der Schemen verschwand aus seinem Blick.
»Warum fallen wir?«
Damit wir lernen können, wieder aufzustehen.
Mühsam und mit zitternden Gliedern richtete sich Jeb auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief ein. Es war nur ein Gedanke, nein, viel mehr, es war eine Erinnerung und das war mehr, als er in den letzten Stunden hatte. Und sie gab ihm Trost. Und Hoffnung. Die Frage, warum man fällt, hatte ihm sein Großvater gestellt, als er noch ein kleiner Junge gewesen und gestürzt war. Weinend, am Boden liegend, hatte er sich dem Schmerz hingegeben. Dann war sein Großvater neben ihm erschienen. Eine schwielige Hand streckte sich ihm entgegen und zog ihn auf die Füße.
Warum fallen wir, Jeb?
Jeb hatte ihn nur mit großen Augen angesehen.
Damit wir lernen können, wieder aufzustehen.
Nach der Wahrheit dieser wenigen Worte hatte er fortan sein Leben ausgerichtet. Wenn ihm etwas misslang, versuchte er es erneut. Unerbittlich gegen sich selbst, hatte er stets die Zähne zusammengebissen und weitergekämpft.
Aber nun sitze ich auf dem Boden, jammere und lass mich gehen.
Er betrachtete seine Hände, die zitterten. Nun, da er wieder bei Bewusstsein war, schlichen sich auch
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