Labyrinth 02 - Das Labyrinth jagt dich
ist nun schon lange tot.«
Jeb sah immer noch kein Blut aus der Wunde sickern. Trug Fernando eine Schutzkleidung darunter? Aber so dünn, wie er aussah, konnte er sich das nicht vorstellen. Dennoch: Er musste den Mann von hier wegbringen. »Ich helfe Ihnen auf.« Er ignorierte das Gebrabbel des Alten, der scheinbar munter weitererzählen wollte, und machte sich daran, ihn aufzurichten. Jeb legte den Arm des Alten um seine Schulter, erhob sich aus den Knien und zog ihn auf die Füße. Wackelig lehnte sich Fernando an ihn an.
»Mein Schild. Ich brauche mein Schild.« Er deutete auf das Plakat, das er an einem Stück Holz befestigt hatte. Jeb hob es auf und drückte es ihm in die zitternde Hand.
Alle Menschen sind Brüder! Lobet den Herrn!, stand darauf. Jeb verstand nun noch weniger, warum auf den Alten geschossen worden war. Noch während er darüber nachdachte, erklang ein weiterer Knall und ein Stück Asphalt spritzte neben seinem rechten Wanderstiefel weg.
»Das war ein Warnschuss«, sagte die Blechstimme. »Eine weitere Warnung wird es nicht geben. Lassen Sie den Mann los! Heben Sie die Hände.«
»Junge, du musst hier weg.«
»Ich werde mit ihnen reden«, sagte Jeb entschlossen.
»Da gibt es nichts zu reden. Entweder sie erschießen uns oder sie werfen uns beide ins Gefängnis, was noch schlimmer wäre. Niemand kommt von dort zurück.«
»Ist es so schlimm?«
Traurig schüttelte der Mann den Kopf. »Es sind schlimme Zeiten.«
Jeb traf eine Entscheidung. Noch bevor sich Fernando weigern konnte, schritt Jeb los. Der Körper des Alten baumelte schlaff in seinem Arm, die Schuhe schliffen über den Asphalt, erzeugten ein einsames Geräusch in der atemlosen Stille.
Würden die Soldaten auf ihn schießen? Er war unbewaffnet, stützte einen Verletzten. Konnten diese Menschen so brutal sein?
Wieder ein Knall. Steinsplitter jagten über die Straße und vor seinen Füßen war ein kleines Loch erschienen.
»Dies ist definitiv der …«, brüllte jemand, aber Jeb hörte nicht zu, sondern konzentrierte sich auf seine Schritte.
In seinem Nacken kribbelte es. Er hatte das Gefühl, dass jederzeit eine Kugel in seinen Rücken schlagen und ihn niederwerfen konnte. Trotzdem ging er weiter.
Nichts geschah.
Die Stimme schwieg.
Plötzlich tauchte León vor ihm auf. Ohne ein Wort packte er den freien Arm des Alten und gemeinsam zogen sie ihn aus der Schusslinie, in die Deckung eines Hauseingangs.
»Was machst du da?«, raunte León. »Willst du unbedingt erschossen werden?«
»Du hast es beobachtet?«
»Ja. Alles. Was sind das für Drecksäcke?«
Jeb nickte mit dem Kopf auf Fernando. »Er sagt, das Militär und die Polizei. Anscheinend herrscht eine Ausnahmesituation. Das Stadtviertel wurde abgeriegelt …« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Sie haben Pablo Gonzales erschossen«, krächzte der Alte. Er streckte León die Hand entgegen. »Ich heiße übrigens Fernando.«
»Mein Name ist León.« Bei dem Namen Pablo Gonzales war ihm ein Schauer über den Rücken gelaufen. Irgendwie … irgendwie kam ihm der Name vertraut vor.
»Junge, du machst mir Angst!« Der Finger des Alten fuhr über Leóns Tätowierungen. »Bist du den falschen Weg gegangen?«
Jeb fand die Bemerkung seltsam, doch León ging nicht darauf ein, sondern fragte stattdessen: »Wer ist Pablo Gonzales?«
»Das wisst ihr nicht?«, fragte der Alte erstaunt. »Kommt mir jetzt nicht mit der Geschichte, dass ihr gerade erst eingetroffen seid. Jeder in den Vereinigten Staaten kennt Pablo Gonzales.«
Bei den Worten »Vereinigten Staaten« zuckte Jeb zusammen. Sie waren heimgekehrt. Endlich, nach all den Qualen und Strapazen hatten sie nach Hause gefunden.
Er blickte zu León, doch dessen Miene blieb verschlossen. Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, starrte er den Mann an.
»Tatsächlich«, sagte Fernando jetzt. »Ihr habt keine Ahnung, wovon ich rede. Erstaunlich.«
»Es ist eine lange Geschichte«, meinte León.
»Jaja, das hat dein Freund schon gesagt. Danke für eure Hilfe.« Der Alte hustete und fing sich erst nach einigen Sekunden wieder. Jeb zog die Anzugsjacke auf und betrachtete die Schusswunde. Genau wie der zerschlissene Anzug war auch Fernandos weißes Hemd darunter von einem sauberen Einschuss durchlöchert.
Aber … es war tatsächlich kein Blut zu sehen. Kein einziger Tropfen. Und doch war die Haut darunter nicht unversehrt. Die magere Schulter des Alten hing irgendwie schief im Gelenk, wie nach einem
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