Labyrinth der Spiegel
beenden.
»In vierundzwanzig Stunden schaltet sich mein Timer ein«, schreie ich ihn an, »dann platzt Ihre umwerfende Geschichte wie eine Seifenblase. Dann werden Sie Ihre Dummheit noch bereuen! Ich bin ein ehrlicher Mann, der seine Steuern zahlt! Ich werde Ihnen die Polizei von ganz Deeptown auf den Hals hetzen!«
»Vielleicht sagen Sie ja die Wahrheit, was ich aber für höchst unwahrscheinlich halte«, entgegnet der Mann Ohne Gesicht. »Sollten wir allerdings zu der Überzeugung gelangen, dass Sie ein ehrlicher Hacker sind …« Die letzten Worte triefen von Sarkasmus. »… dann werden wir Sie nicht weiter behelligen.«
»Damit kommen Sie nicht durch!«, drohe ich ihm. »Man wird Sie unwiderruflich exkommunizieren!«
Die Exkommunikation ist die schrecklichste Drohung für jeden Bewohner Deeptowns. Wenn du die virtuelle Welt einmal betreten hast, ist es schwer, ohne sie zu leben.
»Ich glaube nicht, dass das geschehen wird.«
Der Mann Ohne Gesicht lüftet mit der Geste eines erfahrenen Exhibitionisten seinen Mantel. Auf dem Futter prangt eine runde, regenbogenfarbene Scheibe. Eine kreisende, funkelnde Spirale in blauer Umrahmung.
Damit wäre auch das geklärt. Er ist die Polizei. Und bei der Plakette mindestens Kommissar.
»Also wenn die Sache so ist …«, setze ich mit brechender Stimme an. »Ich wusste natürlich schon immer, dass Undercover-Agenten Schweine sind. Aber dass sie so schmutzige Tricks auf Lager haben …«
»Jetzt hören Sie mir erst mal zu!«
»Habe ich denn eine Alternative?«, brülle ich. »Na?«
Ich ziehe meinen Revolver und feuere die sechs Kugeln in die Tür. Sechsmal prallen sie ab – und landen in den Kartons mit der Software, die daraufhin explodieren und abbrennen. Unter der Decke schalten sich fauchend die Sprinkleranlagen ein. Schon in der nächsten Sekunde sind die Viren unschädlich gemacht.
»Sparen Sie sich Ihre hysterischen Auftritte«, empfiehlt der Mann Ohne Gesicht. Trotzdem meine ich, einen leichten Zweifel aus seiner Stimme herauszuhören.
Ich schleudere die Waffe auf ihn, doch sie gleitet durch ihn hindurch und knallt gegen die Wand.
»Im Übrigen kann ich Sie beruhigen.« Die Stimme ist eiskalt und verspricht nichts Gutes.
Ich setze mich auf den Fußboden und umklammere meinen Kopf. »Ihr Mistkerle … Schweine …«, flüstere ich. »Ihr dreckigen Arschlöcher …«
»Was Sie in der Tiefe treiben, ist uns völlig egal, Diver. Diebstahl ist eine miese Sache, aber Urmann hat schon lange eine Abreibung verdient.«
Ich brabbele leise vor mich hin und wiege meinen Oberkörper sanft.
Der Mann Ohne Gesicht ignoriert mein Schauspiel.
»Es gab, gibt und wird auch immer Verbrechen geben. Ich bin nicht Jesus Christus und verlange von niemandem, dass er ein Heiliger ist. Mich interessieren ganz andere Dinge.«
»Und ich bin nur ein kleiner Unternehmer, der nichts Ungesetzliches tut. Was wollen Sie also von mir?«
»Diese Töne gefallen mir schon besser. Haben Sie je vom Lost Point oder vom Unsichtbaren Boss gehört, Herr Diver?«
Ich habe mit allem Möglichen gerechnet – aber nicht mit ollen Kamellen. Ich hebe den Kopf. »Point, das ist doch die alte Bezeichnung für einen einfachen User eines Computernetzes, oder?«
»Ja. Genauer des FidoNets. So etwas gab es mal.«
»Ich glaube, vom Lost Point habe ich schon gehört. Das ist der Typ, der einen Stromschlag bekommen hat, als er im virtuellen Raum war, oder? Und dessen Bewusstsein seitdem auf irgendeine Weise im virtuellen Raum weiterlebt.«
»Ja. Der Junge rennt jetzt mit käseweißem Gesicht und verbrannter Kleidung durch die Gegend und bittet jeden, den er trifft, dem dreizehnten Moskauer Node mitzuteilen, dass sich Point 666 verlaufen hat. Wie sieht es mit dem Unsichtbaren Boss aus, haben Sie von dem auch schon gehört?«
»Gibt’s hier auch einen Stuhl?« Ich stehe vom kalten Betonfußboden auf.
»Kommen Sie mit!«
Wir gehen nach rechts, an den Regalen mit Kartons für Macintosh-Software vorbei. Was für Ramsch! Wer benutzt denn heute noch einen Mac? Es hat Menschen und Neandertaler gegeben, dann kamen IBM und Apple. Morsche Zweige sind nicht lebensfähig.
Hinter den Regalen entdecke ich einen kleinen Tisch voller Papiere und zwei Stühle. Wir setzen uns.
»Der Unsichtbare Boss ist ein Märchen aus jener Zeit«, erklärt der Mann Ohne Gesicht. »Der Boss ist in der Hierarchie des FidoNets schon eine Stufe höher angesiedelt. Jeder, der ein Point oder ein Teil der virtuellen Welt
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