Labyrinth der Spiegel
werden will, wendet sich an ihn. Wobei – die virtuelle Welt als solche gab es damals noch gar nicht. Die Legende behauptet jedenfalls, ein paar Newbies hätten einmal einen ziemlich guten Boss gefunden … der ihnen vorzügliche Bedingungen anbot: Netzzugang zu jeder Zeit, schnelle Datenübertragung, Mitgliedschaft in jedem Club … damals hießen die Clubs übrigens Echokonferenzen.«
Ich nicke automatisch.
»So weit, so gut.« Anscheinend entgeht dem Mann Ohne Gesicht, welche Blöße ich mir gerade gegeben habe. »Doch irgendwann hat einer der Points herausgefunden, dass die Telefonnummer, über die er sich mit dem Boss in Verbindung setzte, gar nicht existierte und diesen Boss noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Danach hat der Unsichtbare Boss all seinen
Points eine Mail geschickt: ›Weshalb lasst ihr mich nicht in Ruhe?‹ – und ist von der Bildfläche verschwunden.«
»Ja, ja, wir verfügen über eine reiche Folklore«, bemerke ich. »Da gab es zum Beispiel auch noch das Märchen vom wahnsinnigen Moderator und das von der Echokonferenz Gleich stirbst du! «
»Ich bin ebenfalls beim FidoNet eingestiegen«, sagt der Mann Ohne Gesicht.
Worauf ich schweige.
»Herr Diver, im Unterschied zu Urmann will ich Ihre Identität nicht in Erfahrung bringen. Aber … und das ist wirklich komisch, wissen Sie … wir beide brauchen Sie für dieselbe Aufgabe.«
»Ich soll den Lost Point einfangen?«
»Das ist ein Kindermärchen.« Der Mann Ohne Gesicht lacht leise. »Entstanden am Wendepunkt der Zeiten, als Internet, FidoNet und andere Netzwerke sich zu einer einzigen virtuellen Welt zusammengeschlossen haben. Heute erinnert sich kaum noch jemand daran, wie es damals war. Nur fünf Jahre sind vergangen – aber wie viel haben wir in dieser Zeit vergessen?«
»Nichts ist vergessen. Sicher, es liegt unter frischeren Informationen begraben, aber es ist noch vorhanden.«
»Das läuft aufs selbe hinaus, Diver, das ändert nichts am Kern der Sache.«
»Dafür ist heute eine neue Legende entstanden.«
»Welche?«
»Die vom Mann Ohne Gesicht.«
»Sie dürfte kaum so faszinierend sein wie die von dem blassen Jungen in rauchender Kleidung«, wendet mein Gegenüber ein.
Wir stoßen beide ein leises Lachen aus.
»Also, Herr Diver … Haben Sie schon einmal das Labyrinth des Todes gespielt?«
»Kann sein.«
»Sie wissen, dass fürs Labyrinth auch zwei Diver arbeiten?«
»Davon bin ich ausgegangen.«
Sogar zwei? Bisher habe ich vermutet, das Labyrinth komme mit einem Retter aus.
»Ich kann Ihnen ihre Adresse geben … sowohl die Netzadresse wie auch die richtige.«
Was will man mehr?
»Der eine von ihnen ist Ukrainer, der andere Kanadier. Der Erste lebt in …«
»Das ist nicht nötig«, schneide ich ihm das Wort ab, auch wenn es mir schwerfällt.
»Sie verblüffen mich! Ich habe gedacht, alle Welt träume davon, hinter die Identität eines Divers zu kommen. Die Diver selbst inbegriffen!«
»Dieser Traum stellt eines der widerwärtigsten Verbrechen dar … jedenfalls in unserem Ehrencodex.«
Damit räume ich zum ersten Mal ein, dass ich ein Diver bin. Mein Gegenüber dürfte daran allerdings sowieso keine Sekunde gezweifelt haben.
»Im Labyrinth ist ein Problem aufgetaucht … und diese beiden werden damit nicht fertig.« Der Mann Ohne Gesicht beugt sich vor, schnappt sich ein Blatt Papier und
einen Stift vom Tisch und schreibt mir eine kurze Adresse auf. Er tut gut daran, mir keine Visitenkarte zu geben, denn eine Datei aus seinen Händen – die würde ich nie im Leben an mich nehmen. »Unter diesen Koordinaten können Sie mich erreichen. Sollten Sie das Labyrinth besuchen und der Administration Ihre Dienste anbieten, um besagtes Problem zu lösen, setzen Sie sich doch bitte mit mir in Verbindung. Verlangen Sie … den Mann Ohne Gesicht!«
Weitere Details will er offenbar nicht preisgeben. Außerdem zweifelt er anscheinend keine Sekunde daran, dass ich ins Labyrinth gehen werde.
»Weshalb sollte ich mich an Sie wenden?«
Der Mann Ohne Gesicht holt einen kleinen Button aus der Manteltasche. Er sieht fast aus wie seine Polizeiplakette, nur ist der Hintergrund weiß und in der Mitte ist keine Spirale, sondern eine regenbogenfarbene, aus feinsten Fäden gesponnene Kugel, die sich dreht.
»Deshalb.«
Der Button liegt zwischen uns auf dem Tisch. Ich sehe ihn an, kann mich aber nicht entschließen, ihn zu berühren.
Was, wenn er dann verschwindet?
Als Mylady de Winter von Kardinal
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