Lady Daphnes Verehrer
Familie bewusst.
Castleford hingegen schon, rief sie sich in Erinnerung. Mit seinem harschen Urteil über Latham hatte er ihre Sympathie gewonnen. Zum ersten Mal war ihr eine Person von hoher gesellschaftlicher Stellung begegnet, die Latham so einschätzte wie sie. Alle anderen, so schien es, zogen es vor, in seliger Unwissenheit zu leben.
Sie begutachtete im Spiegel das Werk ihres Dienstmädchens. Dann wandte sie den Blick ab, um sich nicht in die Augen sehen zu müssen. Natürlich herrschte überall Unwissenheit, denn diejenigen, die die Wahrheit kannten, verrieten Latham nicht. Er achtete darauf, dass die einzigen Menschen, die ihn entlarven konnten, nicht in der Lage waren, ihm Schaden zuzufügen. Er verließ sich darauf, dass sie wegen ihrer Angreifbarkeit und Feigheit Schweigen bewahrten.
Castleford war jedoch weder angreifbar noch feige. Und trotzdem hatte er Latham, obschon er mit ihm gebrochen hatte, nicht demaskiert.
Gut, sie waren natürlich miteinander verwandt und dem gleichen privilegierten Stand angehörig, und wie es so schön hieß, hackte eine Krähe der anderen kein Auge aus. Das war vermutlich die Erklärung dafür, und es ergab ja auch durchaus Sinn, wenn man sich überlegte, wie die Welt funktionierte. Sie ärgerte sich trotzdem über Castleford, weil er sich auch anders hätte verhalten können. Damit hätte er einigen guten Menschen großes Leid erspart.
Sie setzte sich einen dezenten Hut auf und nahm ihre Handschuhe entgegen. Als sie nach ihrer Tasche griff, fiel ihr abermals die Zeitung ins Auge.
Wie viel Macht besaß Latham wohl? Wie ehrgeizig war er inzwischen? Wie vielen anderen, die sich nicht wehren konnten, würde er noch Schaden zufügen? Er musste unbedingt zu Fall gebracht werden. Und sie hatte nichts dagegen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Sie nahm sich vor, so viel wie möglich über seine Sünden in Erfahrung zu bringen, solange sie in London war, und herauszufinden, ob sie sich da verbargen, wo sie sie vermutete. Wenn sie es clever anstellte, konnte sie vielleicht sogar bei der Besprechung mit Castleford ein paar Dinge erfahren, die ihr weiterhalfen.
Und wenn es ihr gelang, was dann? Sie war sich nicht sicher, ob sie mutig genug war, um der Welt Lathams wahres Gesicht zu zeigen. Zudem glaubte sie nicht, dass man ihn bloßstellen konnte, ohne nicht auch andere bloßzustellen.
Sie würde darüber nachdenken, was zu tun war, wenn sie tatsächlich vor der Entscheidung stand. Sie würde den Preis abwägen, den es sie und andere kosten konnte, wenn bei ihren Nachforschungen handfeste Ergebnisse herauskamen.
Dem Diener an Castlefords Tür fehlte diesmal jede Zierde. Daphne nahm an, dass der Aufsicht führende Butler seinen Posten noch nicht bezogen hatte. Aber welches normale Haus empfing schon zu dieser unglaublich frühen Stunde Besucher?
Sie gingen durch die Empfangshalle und die Treppe hinauf zu den römischen Göttern, die nichts Gutes im Schilde führten. Zu ihrer Überraschung wurde sie nicht durch die Gesellschaftszimmer in den ihr bereits bekannten luftigen Raum geleitet. Stattdessen nahm der Diener sie mit in die zweite Etage.
Wahrscheinlich hatte der Herzog hier oben sein Arbeitszimmer, gleich in der Nähe seiner Gemächer. So hatte er seine Ruhe. Sie hoffte, dass Mr Edwards anwesend war. Sie würde dafür sorgen, dass Castleford den jungen Mann nicht unter einem Vorwand fortschickte.
Während sie dem Diener folgte, wappnete sie sich für den Kampf. Sie musste darauf achten, dass der Herzog beim Thema blieb und nicht abschweifte, wie er es für gewöhnlich tat, wenn ihn ein Wort oder eine Überlegung ablenkte. Es sei denn, sie selbst lenkte seine Aufmerksamkeit durch eine geschickte Gesprächsführung in eine von ihr gewünschte Richtung.
Sie überlegte noch, wie sie das anstellen konnte, als sie vor einer Flügeltür ankamen. Der Diener trat zur Seite und bedeutete ihr, den Raum zu betreten.
Sie erstarrte. Es war kein Arbeitszimmer. Allem Anschein nach handelte es sich vielmehr um ein Ankleidezimmer.
Obwohl sich an der rückwärtigen Wand Kleiderschränke befanden und am Fenster ein Wasch- und ein Toilettentisch, hatte es Ähnlichkeit mit einem großen Salon. Die Sessel, Sofas, Tische und anderen Einrichtungsgegenstände sowie der goldene Stuck machten es zu einem Ankleidezimmer, wie es nur die feinsten Leute besaßen, die in solch einem Refugium ihre engsten Freunde empfingen.
Es fiel ihr schwer, ruhig und beherrscht zu bleiben. Wenn Castleford
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