Lady Helenes skandaloeser Plan
umherzuwandern. Wenn er hier sitzen blieb, würde er Helene womöglich verpassen. Vermutlich wandelte sie genau jetzt auf einem dieser dunklen Pfade, und er könnte ihr Begleiter sein und sie noch einmal bitten, ihn doch in seinem kleinen Hause am Golden Square zu besuchen.
»Hier!«, rief Griselda, wedelte mit ihrer Handtasche und brüllte so laut, dass Mayne sie am liebsten geschüttelt hätte. »Da ist Cornelius«, erklärte sie. »Corneeeeelius!«
Ein exquisit gewandeter Anhänger der Göttin Mode näherte sich ihnen und betrachtete sie durch sein Lorgnon. Sein Haar bäumte sich über seiner Stirn auf, als wäre es von einem Blitzschlag getroffen worden, doch Griselda schien an seiner Erscheinung keinen Mangel zu finden.
»Ich dachte, du hättest diesen Gecken fallengelassen, weil er so viel von Lyrik versteht«, bemerkte Mayne.
»Noch nicht«, erklärte seine Schwester selbstgefällig. »Ich habe ihm aufgetragen, noch ein Gedicht auf mich zu verfassen. Dieses werde ich dann dir überreichen, Darling, damit wir gemeinsam herausfinden, bei wem er sich dieses Mal bedient hat. Das macht doch viel mehr Spaß. Was ist schon dabei gewonnen, wenn man seine Bekannten vergrault?«
Doch Mayne hatte plötzlich erkannt, dass Cornelius Bambers Auftauchen auch sein Gutes hatte. »Schön, Sie zu sehen, Bamber«, sagte er kurz. »Ich wäre Ihnen überaus verbunden, wenn Sie meiner Schwester für eine Weile Gesellschaft leisten würden, während ich versuche, einen Bekannten zu finden.«
»Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite«, äußerte Bamber mit matter Stimme. »Wer würde eine solche Gelegenheit nicht mit Freuden beim Schopf ergreifen? In ihrer Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht …«
»Ist das nicht von Spenser?«, fragte Mayne beißend. »Oder nein, es ist Byron, nicht wahr?«
Bamber achtete nicht auf ihn, da er sich heftigst unter Zuhilfenahme drei oder vier schwungvoller Gesten verneigte. Mayne machte sich zufrieden davon. Beim Gedanken an Helene hatte ihn eine heftige Erregung ergriffen, die wie ein Strom von seinen Haarspitzen bis zu den Zehen floss. So hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er ein Jüngling gewesen war. Mit ihren klaren, nachdenklichen Augen und ihren gebildeten, weltgewandten Ansichten über Männer und Frauen war Helene sein Zwilling. Eine herrlich weibliche, hinreißende Ausgabe seiner selbst.
Hinter ihm hatte sich nun auch Lady Petunia Gemmel zu seiner Schwester gesellt, und beide quietschten so vergnügt, dass Lady Petunia gewiss ein saftiges Stück Klatsch aufgetischt haben musste. Das sollte Griselda zumindest für die nächste Stunde beschäftigen. Diese beiden Weiber waren wie die Wilden, wenn sie andere durch den Schmutz zogen, und wandten die Taktik besonders auf liebe Bekannte an.
Helene
wandelt in Schönheit, dachte er, wie die wolkenlose Sternennacht. Vielleicht war Byron doch kein so schlechter Dichter.
30
Eine Singdrossel zeigt ihre Krallen
Im Hof des Pewter Inn war jeglicher Typ Kutsche zu finden, der über Londons Straßen rollte: Phaetons, Landauer, Droschken und gelegentlich sogar eine Staatskarosse. Pferdeknechte brüllten und rannten. Gerade als Tom und Lina durch das Tor traten (über dem in abblätternden silbernen Lettern »Pewter Inn« stand), raste die Postkutsche heran, hätte beinahe den linken Torpfosten gestreift und damit das Tor über ihren Köpfen zum Einsturz gebracht.
»Meggin hat mir einen Apfel angeboten, als ich aus der Postkutsche stieg«, erzählte Tom Lina. »Sie hat wohl immer Äpfel an die Fahrgäste verkauft.«
Schreie ertönten ringsumher, während die Stallburschen wieder einmal das Gepäck der Passagiere auf den Boden warfen. Sogar eine Kiste voller Hühner war dabei, die bei dem harten Aufprall natürlich zerbrach. Sogleich entflatterte das aufgescheuchte Federvieh in alle Richtungen.
»Ich verstehe schon, was Sie meinen«, sagte Lina und umklammerte Toms Arm. »Meggin ist viel zu klein, um in diesem Durcheinander …«
Doch sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn Tom zog sie beherzt zur Seite, um einem Landauer auszuweichen, der von einem jungen Gentleman rückwärts durch das Tor gesetzt wurde, der offenbar der Meinung war, Leute von geringerem Stand müssten ihm Platz machen und nicht umgekehrt.
»Zur Küche geht es ums Haus herum«, erklärte Tom und brachte Lina in die relative Sicherheit des überdachten Gangs, der rings um den Hof lief.
Lina schaute zu ihm auf und sagte etwas, doch er konnte es nicht
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