Lady Helenes skandaloeser Plan
auch nicht von der Art, dass ein Mädchen nachts wachlag und sich fragte, wo er nur blieb.
Er schwieg und kritzelte eifrig weiter.
»Drei Mal«, fügte sie hinzu. »Ich singe diese« – sie schluckte das »dämlich« hinunter – »ich werde deine herrliche Arie
drei
Mal singen, Rees.«
Nun endlich schob er den Schemel zurück und erhob sich mit einem launigen Grinsen. »Da ich offenbar nicht arbeiten darf, bevor du deinen Willen bekommen hast, lass uns in Gottes Namen fahren. Hast du schon die Kutsche bestellt?«
»Wie denn? Leke ist ja nirgends aufzutreiben«, entgegnete Lina. Rees schaffte es immer wieder, seine Diener zu vergraulen. Sein Butler Leke war der Einzige, der ihm treu geblieben war, doch er kam und ging, wie es ihm passte, und war des Öfteren nicht auffindbar.
»Verdammt«, knurrte Rees und eilte aus dem Zimmer.
Lina blieb ein wenig zurück und schubste ganz sanft, nur mit einer rosigen Fingerspitze, seine Partitur vom Klavier, die sich mit dem Blättersalat zu ihren Füßen vereinigte.
»Ich komme schon, Liebster!«, trällerte sie mit einem kleinen Tremolo, das ihn zu erregen vermochte, wie sie sehr wohl wusste. Lina hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass es gar nicht ihre körperlichen Reize waren, die Rees Godwin fesselten. Der sinnliche Leib und die anzüglichen Blicke, die Hervey Bittle zu einem stammelnden Nichts erniedrigt hatten, interessierten den Earl kaum. Und deshalb lebte sie nun im Schlafgemach seiner Frau wie eine Nonne.
Es war lediglich ihre Stimme, die der Earl aus dem Opernhaus abgeworben hatte. Und sie, das dumme junge Närrchen, hatte sich so in ihn verschossen, dass sie es nicht einmal gemerkt hatte.
Und wenn schon. Linas angeborener schottischer Sinn für das Praktische sagte ihr, dass es sehr viel angenehmer war, ein paar Arien zu singen, statt ständig für einen Mann im Schlafzimmer bereit zu sein. Und der Earl war nicht gerade umwerfend im Bett. Er hatte zwar einen schönen Körper. Aber seine Art der Liebe ließ sich mit »Ja danke, war schön, bis später« beschreiben.
Lina zuckte die Achseln und begab sich in die Halle zu ihrem Earl. Doch zuvor stupste sie das Libretto noch einmal mit der Stiefelspitze an, damit es auch wirklich unter den aufgehäuften Blättern auf dem Boden verschwand.
Madame Rocques Etablissement befand sich in der Bond Street Nummer einhundertzwölf und stellte in Linas Augen eine Enklave von Geld und Eleganz dar. Schon wenn sie es betrat, atmete sie tief ein. Nichts liebte sie mehr als den schwer fassbaren Wohlgeruch, der durch seidenverhangene Räume wie diese schwebte. Es war ein Geruch nach schwerer Atlasseide, nach französischem Parfüm, nach Damen, die ihre Kleider drei oder vier Mal am Tag wechselten und sich nichts dabei dachten, drei passende Hüte zu einem Kleid zu bestellen oder sogar zwei Kleider zu einem Lieblingshut.
Der Vorraum war wie das Boudoir einer eleganten Dame gestaltet, es fehlte auch nicht der Ankleidetisch, auf dem meterweise krokusfarbige Seide mit Rüschen ausgebreitet lag. Die Wände waren mit Seide im gleichen lieblich gelben Farbton verkleidet. Über einer Stuhllehne hing ein erlesenes Abendkleid, und die Wirkung war die, als könne die Besitzerin des Boudoirs jeden Augenblick hereinrauschen und die edle Robe anlegen. Eine der Neuerungen Madame Rocques bestand darin, dass sie ihre neuen Modelle ausstellte, sodass man ein Kleid sehen konnte, bevor man es bestellte.
Rees fiel inmitten dieser überbordenden Weiblichkeit auf wie ein bunter Hund. Heute sah er besonders liederlich aus, denn sein ohnehin viel zu langes Haar löste sich aus seinem Band, und seine Unterlippe hing verdrießlich herunter. Doch von alldem abgesehen, war sein Titel eh das Einzige, mit dem man bei Madame Rocque Eindruck schinden konnte. Selbstverständlich wurde ein Earl nebst Begleitung sogleich in eines der inneren Zimmer geführt, und zwar von Madame höchstpersönlich, die Lina sonst wie eine Dienstmagd behandelte, die mindestens eine halbe Stunde im Vorraum warten musste.
Madame wuselte um Rees herum wie ein schmächtiger Sperling, der einen Habicht umbalzt. Wenn sie nicht so dumm gewesen wäre, hätte sie merken müssen, dass derartiges Gezwitscher Rees nur noch mehr reizte. Er machte den Eindruck eines Kindes, dem man befohlen hat, auf das Dinner zu warten. Dann wandte sich Madame endlich Lina zu. Es war ganz offensichtlich, dass sie einerseits größten Wert auf Rees’ Gunst legte, andererseits aber Lina deutlich
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