Lady Helenes skandaloeser Plan
blickte sie an ihrer sehr viel fülligeren Figur hinab. Zwar hatte Langeweile dafür gesorgt, dass sie nun ein wenig dicker war, als sie eigentlich sein wollte, aber wenigstens saß alles an den richtigen Stellen.
Und wichtiger noch: Madame Rocque schien sich nun auf die Seite des Soprans gestellt zu haben. »Ich hätte einen anderen Vorschlag«, sagte sie mit ihrem starken französischen Akzent. Lina war vollkommen sicher, dass dieser Akzent gekünstelt war. Sie hatte lange üben müssen, um ihren schottischen Akzent loszuwerden, und wusste, wie leicht man einen Akzent vortäuschen konnte. Vermutlich war Madame Rocque in Wirklichkeit Mrs Riddle aus Lower Putney, dachte Lina verbittert.
Einen Augenblick herrschte Ruhe, und dann hörte sie, wie Madame einer Verkäuferin eine knappe Anweisung gab. Kurz darauf wurde leise an die Tür ihres Zimmers geklopft, und ein Mädchen kam mit einem Kleid herein, offenbar
dasselbe
Kleid, denn es war orange. Lina beäugte es misstrauisch. Wie viele orangerote Kleider mochte es in diesem Salon geben? Zudem erwartete sie, von Madame Rocque persönlich bedient zu werden und nicht von einem stammelnden Mädchen und nicht mit einem Kleid, das soeben von einer anderen Kundin verworfen worden war. Eigentlich wollte sie das Kleid gar nicht anprobieren.
»Nun zieh das verfluchte Ding schon an«, knurrte Rees. »Ich habe zu arbeiten.«
Lina schaute genauer hin und besann sich. Das Kleid war wunderschön. Geschickt begann die Verkäuferin, Linas Straßenkostüm aufzuknöpfen.
Im Nebenzimmer war Madame offenbar mit einem anderen Gewand zurückgekehrt. »Dieses Kleid ist eine Schöpfung, die ich nur meinen besten Kundinnen offeriere«, sagte sie mit ihrer durchdringenden, französisierten Stimme.
Einen Augenblick herrschte im Nebenzimmer absolute Stille. Lina strengte ihre Ohren an. Wurde dem Sopran nun etwa ein noch gewagteres Kleid angeboten? Wenn es so war, dann wollte Lina dieses Kleid ebenfalls haben. Natürlich war das Kleid, das sie gerade anprobierte, auch sehr schön. Es entsprach genau der Beschreibung in
La Belle Assemblée
, und Lina beabsichtigte, eines in Gelb und vielleicht noch ein zweites in Flieder zu bestellen. Aber …
»Ich kann nicht!« Das war der Sopran. Doch die Stimme war die ehrfürchtige Stimme einer Frau, die sehr wohl
konnte
.
»Mylady, wenn Sie vielleicht Ihre Chemise und Ihr Korsett ablegen wollten, dann könnte ich Ihnen das Kleid über den Kopf ziehen. Ich glaube wirklich, dass es Ihnen sehr gefallen wird.«
»Ich soll mein Korsett ausziehen? Ohne ein leichtes Korsett werde ich mich sehr unwohl fühlen«, widersprach der Sopran. »Ich fürchte, dieses Kleid kommt nicht infrage.«
Lina hätte fast gekichert. Sie selbst hatte, seit sie Schottland verließ, kein Korsett mehr getragen. Sie hörte neuerliches Rascheln, vermutlich wurde das Kleid über das Korsett gezogen.
Die Altstimme räusperte sich. »Herrgott im Himmel, Helene, du siehst ja … du siehst …«
»Vorzüglich, nicht wahr?« Madame Rocque klang äußerst zufrieden. »Sie müssen wissen, wenn eine Dame nicht ganz die Gaben besitzt, die man gern …« Sie brach ab.
Der Sopran muss flach sein wie ein Schachbrett, dachte Lina amüsiert.
»Dieser Stil bringt vor allem die Anmut und Zartheit Ihrer Figur zur Geltung, Mylady. Dieses Kleid ist sinnlich und verführerisch und lässt doch, wie Sie sehen, nichts unbedeckt.«
Die Altstimme lachte. Es war ein Lachen wie dunkle Schokolade, und Lina dachte wieder, wie anziehend sie auf Männer wirken musste. Und wie aufs Stichwort hob Rees den Kopf und lauschte.
»Es ist absolut herrlich«, sagte die Altstimme. »Ich denke, du wirst es in Bernstein nehmen, Helene? Bernstein passt am besten zu deiner Haarfarbe und ist zudem der letzte Schrei. Und haben Sie es vielleicht auch in schillernder Seide, Madame?«
Madame Rocques Stimme klang nun so zufrieden wie das Maunzen einer Katze, die den Sahnetopf gefunden hat. »Ich würde eine zierliche Perlenbordüre vorschlagen, Lady Bonnington, wenn Sie einverstanden sind.«
Rees fuhr auf wie ein Terrier, der einen Mastiff gerochen hat. Lina warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Gefällt dir das Kleid, Rees?«, fragte sie und drehte sich vor ihm im Kreis. Ein Mann musste schon ein rechter Waschlappen sein, wenn er nicht mit Bewunderung ihre Brüste betrachtete, die aus dem gekräuselten Atlasband hervorsprangen.
Er hörte sie nicht einmal, sondern sagte nur: »Das da nebenan ist meine Frau, um Himmels willen.
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