Lady Helenes skandaloeser Plan
durchaus lohnender Fang, denn er war der jüngere Sohn eines Earls und verfügte über ein gutes Einkommen. Aber bislang hatten sich die Versuchungen durch ortsansässige Jungfern in Grenzen gehalten.
Lina war ein ganz anderes Kaliber.
Ich begehre sie, gestand Tom sich ein. Mehr als je eine Frau zuvor. Und es ist kein rein körperliches Verlangen (obwohl er sich eingestehen musste, dass es doch eine hitzige Variante dieses Gefühls war, ein Gefühl, wie er es noch nie verspürt hatte). Aber ich begehre alles an ihr, beteuerte er. Ich begehre ihr albernes Kichern, ihre merkwürdige Bibelfestigkeit, ja selbst die scheußlichen Witze, die sie mir fortwährend meint erzählen zu müssen.
Sehr akkurat zerteilte er seine Toastscheibe in vier kleine Quadrate. Tom hatte sich im Leben oft auf seinen Instinkt verlassen. Das mochte unmännlich sein, doch es hatte sich ausgezahlt. Sein Instinkt hatte ihm geraten, das ansehnliche Erbe seiner Mutter anzunehmen und so klug anzulegen, dass es sich mittlerweile verdreifacht hatte. Sein Instinkt hatte ihm geraten, nach London zu reisen und die Aussöhnung mit seinem Bruder zu suchen. Sein Instinkt hatte ihm …
Lina gebracht. Sie eignete sich allerdings nicht zur Pastorenfrau. Wenn er sie heiratete, würde er sich die Möglichkeit verscherzen, eines Tages in eine größere Gemeinde versetzt zu werden. Und wenn der Bischof erst herausfand, dass Tom die Geliebte seines Bruders geheiratet hatte, würde er ihn vom Dienst suspendieren. Wenn er Lina heiratete … Es stand doch bereits fest, warum sich also Gedanken über die Folgen machen? Tom verzehrte seinen Toast. Wenn er sie doch einfach auf ein Pferd werfen und mit ihr in den Norden galoppieren könnte!
Tom sah Lina erst am Nachmittag wieder. Sie war nicht zum Mittagessen heruntergekommen und Rees ebenso wenig. Helene übrigens auch nicht. Wahrscheinlich speiste sie stets auf ihrem Zimmer. Tom fand es erstaunlich genug, dass sie eingewilligt hatte, wieder zu Rees zu ziehen. Er saß noch eine Weile tatenlos herum, wusste aber nichts mit sich anzufangen und beschloss, Meggin in der Kinderstube zu besuchen.
Als er den Korridor entlangging, hörte er bereits Gelächter. Lina lachte so hell und schallend wie ein Kind, gar nicht routiniert wie eine Kurtisane. Weil sie eben keine Kurtisane
ist
, dachte Tom, als er die Tür zur Kinderstube öffnete. Linas klare Augen konnten nicht lügen. Sein Bruder – sein nichtsnutziger Bruder – hatte sie zu einer ausgehaltenen Frau, zu einer Mätresse gemacht. Beim Gedanken daran hatte Tom die Empfindung, dass ein Stahlstab in seiner Brust steckte.
Lina saß auf einem Schemel am Fenster. Meggin stand hinter ihr und zog eine Bürste durch die Haarpracht. Sie bemerkten ihn gar nicht. Meggin starrte wie gebannt auf den glänzenden Strom von Linas Haaren, und Lina war mitten in einer Erzählung: »… du siehst also, Meggin, dem Müller blieb gar nichts anderes übrig, als seine drei Söhne fortzuschicken, damit sie ihr Glück machen konnten.«
»Warum konnten sie nicht daheimbleiben?«, fragte Tom im Näherkommen. Lina schaute rasch zu ihm auf und grüßte ihn freundlich mit den Augen. »Guten Tag, Miss McKenna.« Er machte eine Verbeugung. »Hallo, Miss Meggin.« Meggin schaute nicht einmal auf, sondern starrte weiter wie hypnotisiert auf die Bürste, die sie durch Linas seidiges Haar gleiten ließ.
»Meggin, Liebes«, sagte Lina und drehte sich um. »Ich glaube, mein Haar ist nun genug gebürstet. Könntest du vielleicht später weitermachen?«
Wut zuckte über das Gesicht des Kindes. Es streckte die Hand aus und hielt Linas Haar fest.
»Später am Nachmittag«, sagte Lina freundlich, aber bestimmt, erhob sich und reichte dem Kind ihren Muff aus Schwanendaunen.
Meggin stutzte kurz, dann begann sie den Muff behutsam zu bürsten.
»Wenn Sie bitte läuten würden, Mr Holland«, bat Lina. »Dann wird Rosy kommen und sich um Meggin kümmern.«
Tom läutete. »Meggin«, wandte er sich an das kleine Mädchen, »möchtest du heute Nachmittag einen Ausflug in den Park unternehmen?«
Sie blickte nicht auf und zeigte auch sonst keinerlei Reaktion.
»Vielleicht möchtest du die Löwen im Tower von London sehen?«, versuchte er es erneut.
Jetzt murmelte sie etwas.
»Wie bitte?«
»Issas in der Nähe vom Pewter Inn?«
»Nein«, erwiderte Tom.
Der Mund der Kleinen zitterte, dann widmete sie sich wieder dem Muff.
In diesem Augenblick kam Rosy. Tom und Lina verließen die Kinderstube.
»Meggin
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