Lady Helenes skandaloeser Plan
fühlt sich nicht wohl hier«, begann Lina ohne Umschweife, nachdem Tom die Tür geschlossen hatte. »Sie macht ihren Mund nur auf, um zu fragen, wann sie Mrs Fishpole wiedersieht.«
»Ich könnte sie wohl noch einmal zum Gasthof bringen, aber nur für einen kurzen Besuch«, überlegte Tom zögernd. »Meggin hat dort auf einem Stapel Lumpen in einem Winkel der Küche geschlafen, weil Mrs Fishpole sich außerstande sah, das Kind zu sich zu nehmen.«
Lina schritt ihm durch den Korridor voran. »Sie haben sie also gerettet? Einfach so? Ohne lange nachzudenken mitgenommen?«
»Ich hatte keine andere Wahl«, beteuerte Tom, der sich in die Defensive gedrängt fühlte.
»Warum nicht?«
»Weil ich nun einmal dort war, und weil Mrs Fishpole drängte, ich solle sie mitnehmen, und deshalb konnte ich nicht …«
»Aber warum waren Sie dort?«
»Ich hatte Meggin auf dem Hof gesehen und dachte, sie sei möglicherweise in Gefahr.«
»Sie wollten sie retten«, stellte Lina nüchtern fest. »Und zwar vom ersten Moment an.«
»So einfach war das nicht«, entgegnete Tom verärgert.
»Wie viele Kinder haben Sie schon gerettet?«
Ihre Hüften schwangen vor seinen Augen hin und her. Tom konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. »Nicht so viele.«
»Sie haben gewiss schon einen richtigen Heiligenschein.« Lina betrat die Bibliothek und ließ sich auf eine Couch sinken, von der sie zu ihm aufblickte.
Hatte es verächtlich geklungen? Tom wurde immer gereizter. »Das hat damit gar nichts zu tun«, entgegnete er.
»Unsinn«, erklärte Lina unverblümt. »Ihr Pfarrer seid doch alle gleich. Es gefällt Ihnen, einen Heiligenschein zu tragen, und deswegen haben Sie Meggin der einzigen Mutter fortgenommen, die sie jemals hatte – Mrs Fishpole. Und das war ein Fehler.«
Tom geriet allmählich in Wut. »Mrs Fishpole konnte sie nicht länger dort behalten. Meggin schlief in der Küche auf einem Stapel Lumpen, und Mrs Fishpole vertraute mir an, dass sie um die Sicherheit der Kleinen besorgt sei. Verstehen Sie nicht, was ich damit sagen will?«
»Ich verstehe Sie durchaus«, erwiderte Lina ungeduldig. »Und deshalb mussten Sie wie ein Ritter in schimmernder Rüstung hereingaloppieren und Meggin mitnehmen, nicht wahr? Da haben Sie sich bestimmt eine Stunde lang sehr heilig gefühlt.«
»So war das doch gar nicht!«, protestierte Tom. »Und warum sprechen Sie so verächtlich über den ehrlich gemeinten Versuch, einem Kind zu helfen?«
»Das tue ich ja gar nicht. Aber ich kenne diese gottesfürchtigen Menschen, die übereilt und ohne nachzudenken Menschen retten, nur allzu gut, und ich weiß auch, dass ihnen die Fähigkeit fehlt, zuzugeben, dass sie sich möglicherweise geirrt haben.«
»Also habe wohl eher
ich
den Fehler gemacht, indem ich Meggin aus dem Gasthof holte, und nicht Mrs Fishpole.«
Lina nickte. »Aber Sie haben doch sicherlich eine fromme Rechtfertigung dafür, dass Sie sie so überstürzt von der Seite Ihrer Mutter gerissen haben?«
»Mrs Fishpole ist nicht Meggins Mutter«, stellte Tom klar. Doch er war kein Mann, der mit aller Macht auf seinem Standpunkt beharrte. »Sie könnten schon recht haben. Obwohl ich es gewiss nicht getan habe, nur um einen scheinheiligen Moment der Güte zu genießen.«
Lina hatte den Blick gesenkt und betrachtete stirnrunzelnd ihre Fingernägel. »Wir müssen sie zurückbringen.«
Tom setzte sich neben sie, ohne erst um Erlaubnis zu fragen. »Meggin kann aber nicht ewig in jener Küche hausen.«
»Nein, das natürlich nicht.« Sie warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Aber sie braucht eine Mutter. Mrs Fishpole wird eine andere Lösung finden müssen. Wie schade, dass Rees bereits eine Köchin hat!«
»Ich glaube nicht, dass Rees eine Köchin genehm wäre, die lediglich Fisch- und Wurstpasteten zubereiten kann«, machte Tom geltend. »Er zahlt seiner Köchin doch hundert Guineen im Jahr!«
Lina verwarf den Einfall, Rees’ Köchin heimlich zu kündigen. »Wir müssen aber etwas tun. Die arme Kleine: Ihr Blick könnte sogar
mich
zum Weinen bringen!« Lina weinte nie. Diese Regel hatte sie an dem Tag aufgestellt, als sie ihr Zuhause verließ, in London ankam und feststellen musste, dass ihr die Geldbörse mit allem, was sie besaß, gestohlen worden war.
»Ich gedachte, eine Familie für sie zu finden, wenn ich nach East Riding zurückkehre«, erzählte Tom.
»Wer möchte denn schon eine Waise aufnehmen?«, sagte Lina. Sie hatte zu viele angeblich mildtätige Menschen erlebt, die einem
Weitere Kostenlose Bücher