Lady Helenes skandaloeser Plan
»
Kommt, kommt, kommt zum Ball … Liebschaften verwelken beim anbrechenden Tag … Kommt, kommt, kommt zum Ball!
«
Helene hielt nach dem Verklingen des letzten Tons die Augen geschlossen und kostete das Gefühl noch eine Weile aus. Zum ersten Mal in vielen Jahren hatte sie Rees’ Musik wirklich genossen. Dann verdunkelte sich das gleißende Licht vor ihren geschlossenen Augen, denn Rees war zwischen sie und die Sonne getreten. »Bist du etwa eingeschlafen?«
Da schlug sie die Augen auf. Sie wusste, dass Tränen in ihnen standen, und es war ihr völlig gleich. »Es war wunderschön.«
Er legte ihr eine Hand an die Wange. »Tränen?«
Sie brachte ein unsicheres Lächeln zustande. »Es war einfach so schön. Ich habe … deine Stimme hat mir gefehlt.« Als sie den Ausdruck seiner Augen sah, schloss sie die Augen, und dann spürte sie seinen Mund, zaghaft nur, ein leichtes Streifen der Lippen.
Wie hatte sie nur seine Küsse vergessen können, die sie vor ihrer Hochzeit so geliebt hatte? In dem Jahr, als sie debütiert hatte, waren sie immer wieder aus einem überfüllten Ballsaal entwischt und hatten in einem stillen Winkel über Musik gesprochen. Oder sie hatten ein Klavier gefunden und seine Kompositionen gespielt, und später, als sie ihn besser kannte, auch eine der ihren. Und stets hatte die aufregende Möglichkeit geheimer Küsse in der Luft gelegen, die man verstohlen und verborgen hinter Türen austauschte.
Und warum hatten sie so viel Wert auf Heimlichkeit gelegt? Helene wusste es nicht mehr. Denn ihr Vater war hellauf begeistert gewesen, dass ein zukünftiger Earl seiner schlaksigen, hässlichen Tochter den Hof machte. »Warum sind wir eigentlich durchgebrannt?«, fragte sie jetzt und vergrub ihre Finger in seinen Haaren.
»Weil ich dich wollte«, antwortete Rees.
Wieder streifte er ihre Lippen in einem zarten Kuss. Helene hoffte inständig, dass er sich nicht daran erinnerte, wie sie lauthals verkündet hatte, dass Küsse ekelhaft waren, denn sie dienten ja nur dazu, Demütigung und Schmerz des eigentlichen Aktes vorzubereiten.
Vor dieser schrecklichen Zeit, vor ihrem gemeinsamen Durchbrennen hatte ihr Herz schon beim Anblick seines Mundes schneller geschlagen, und sie hatte nur von dem Augenblick geträumt, wenn er sie hinter eine Tür ziehen und ungeschickt küssen würde. Es waren die Küsse eines unerfahrenen Jungen, ohne Sanftheit und Raffinesse … dennoch hatte sie ihn zu jener Zeit für den fähigsten und geschicktesten Liebhaber der Welt gehalten.
»Gib mir einen richtigen Kuss, Rees«, bat sie.
Seine Hand streichelte ihren Hals. Ob er sich erinnerte?
»Weißt du noch, wie du mich geküsst hast, bevor wir verheiratet waren?«, fragte sie.
»Ich muss das reinste Tier gewesen sein, dass ich dich immer wieder in eine Ecke gezerrt habe.«
»Mir hat es sehr gefallen«, gestand Helene.
»Du hast aber nie …«
»Das dürfen Damen auch nicht.«
Doch Rees erinnerte sich nur zu deutlich, wie seine Frau es abgelehnt hatte, mit offenem Mund zu küssen, weil sie es widerlich fand, wie sie ihm schonungslos mitteilte. Er zögerte. Ihre neu entstandene Freundschaft war so zerbrechlich und (es fiel schwer, das zuzugeben) so wichtig für ihn. Seine Frau hatte etwas an sich, das ihn, nun ja,
heil
machte. Er wollte sie nicht schon wieder verscheuchen. Ihr zum Ekel sein.
Also ließ er sie zu sich kommen. Seine Frau, die Küsse doch so sehr hasste, öffnete ihren Mund und bat schüchtern und verlegen darum, geküsst zu werden.
Rees war kein Gentleman, das hatte er immer schon gewusst. Und wenn es sich um seine Frau handelte, konnte er sich nicht beherrschen. Daran hatte sich nichts geändert. Er stürzte sich so wild auf ihren Mund, dass sie rücklings in die Blumen fiel und er mit ihr, Arme und Beine ineinander verschlungen, in einem feurigen Kuss vereint.
Und er wartete insgeheim darauf, dass sie sich losreißen, ihn von sich stoßen, ihn verderbt und widerlich nennen würde …
Doch stattdessen schlangen sich zarte Arme um seinen Hals, und ein schlanker Körper schmiegte sich an ihn. Helene war so schmelzend, so nachgiebig, dass Rees beinahe vor Freude gestöhnt hätte.
Am Ende war er es, der sich von ihr löste. »Helene«, stieß er heiser hervor. »Du hast doch
jeden Tag
gesagt, nicht wahr?«
Sie öffnete die Augen, sah ihn benommen an. »Ja.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Wahrscheinlich presste er ihr gerade sämtliche Luft aus den Lungen.
Also war es angeraten, sich lieber
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