Lady Helenes skandaloeser Plan
sie aus dem Bett zu zerren und in ein kochend heißes Bad zu stopfen.
»Nein«, erwiderte Helene müde und schaffte es, die Füße auf den Boden zu stellen. »Verlasse bitte mein Zimmer, Rees.«
»Ich warte dann unten auf dich.«
»Ich will jetzt nicht an der Partitur arbeiten. Ich brauche frische Luft.«
»Wo willst du denn frische Luft schöpfen? Du weißt doch wohl noch, dass dieses Haus keinen nennenswerten Garten hat, oder?«
»Ich werde in einer geschlossenen Kutsche in den Hyde Park ausfahren«, sagte Helene, der plötzlich einfiel, dass ganz London sie ja in Bath wähnte. »Aber ich setze mich jetzt nicht ans Klavier, Rees, rechne bloß nicht mit mir.«
»Dann gehen wir eben gemeinsam spazieren«, schlug er mit unverwüstlich guter Laune vor. »Eine ausgezeichnete Idee! Dabei kann ich dir die Arie vorsingen.«
Helene presste die Hände an den Kopf. »Hinaus«, sagte sie tonlos. »Hinaus, hinaus, hinaus!«
»Dein Haar gefällt mir heute Morgen«, sagte ihr Mann und grinste sie unverschämt an. »Besonders am Oberkopf. Hübscher Effekt, dieser Hahnenkamm.«
»Hinaus!«, schimpfte Helene, sprang auf und funkelte ihn zornig an.
Eine Stunde später schleppte sie sich die Treppe hinunter. Sie kam sich vor wie eine der verzweifelten Heldinnen aus Rees’ Opern, wenn auch ihr blaues Straßenkostüm vermutlich so viel kostete wie die Quäkerkostüme eines ganzen Chor-Ensembles.
Rees saß am Spinett und erhob sich bei ihrem Eintreten. »Die Kutsche wartet bereits, und ich habe die Köchin angewiesen, einen Picknickkorb zu packen, da du ja noch nichts gegessen hast.«
»Ich kann nichts zu mir nehmen«, sagte Helene schwach.
»Dann esse ich eben auch deine Portion«, sagte er achselzuckend.
»Ich habe noch gar nichts von diesem Teil des Hyde Parks gewusst«, äußerte Helene begeistert einige Zeit später. Die Gräser zu beiden Seiten des gewundenen Pfades waren so hoch gewachsen, dass sie die herabhängenden Zweige gewaltiger Eichen streiften. Gänseblümchen reckten ihre Köpfchen aus dem gewaltigen Gräsermeer, unerschrockenen Soldaten gleich, die gegen brusthohe Nesseln und Disteln ankämpften.
»Hier habe ich noch nie eine Menschenseele angetroffen«, erzählte Rees. »Die feinen Leute ziehen kiesbestreute Wege vor.«
Manche der Eichen standen nahe am Weg und beugten sich nach unten wie in demütiger Verneigung, wischten mit ihren Zweigen über den Boden. Dann wieder wichen die Bäume zurück und gaben einen Fleck smaragdgrünen Rasens oder ein Meer von Gänseblümchen frei. Zwanzig Minuten später hörte Helene keinen Laut mehr vom Lärmen der großen Stadt, weder Kutschen noch Glocken noch menschliche Stimmen. »Es ist, als wäre man auf dem Land«, sagte sie ehrfürchtig.
Sie umrundeten eine Wegbiegung, und erneut wichen die Bäume zurück, öffneten sich zu einer weiteren Lichtung. »Wie schön«, staunte sie, als sie durch einen wahren See von duftigen weißen Blumen schritt, die wie Sterne geformt waren. Sie bückte sich, um einige zu pflücken.
Als sie zurückschaute, sah sie Rees immer noch auf dem Pfad stehen, einen rätselhaften Ausdruck im Gesicht. Die Sonne beschien seine Züge unbarmherzig, hob die Falten um seine Augen, seine finster zusammengezogenen Augenbrauen, seine volle Unterlippe und seine beiden Grübchen hervor …
Und Helene begriff mit einem heftigen Herzklopfen, dass sie ihre erste Verliebtheit nie überwunden hatte, jene blind machende Leidenschaft, die sie dazu gebracht hatte, aus ihrem Schlafzimmerfenster zu klettern und in seine Kutsche zu steigen, damit sie nach Gretna Green fahren konnten.
Beinahe hätte sie die Blumen fallen gelassen. Die Erkenntnis überwältigte sie.
Als Rees endlich mit dem Picknickkorb zu ihr kam und sich auf den Boden fallen ließ, wobei er an die hundert Sternblumen zerquetschte, verschlug es Helene die Sprache. Neun Jahre lang hatte sie sich eingeredet, dass die kurze Verliebtheit, die zu ihrer Flucht geführt hatte, nichts als ein Traum, eine vorübergehende Blindheit gewesen war.
Aber das war sie nicht. O nein, gewiss nicht.
Wie betäubt half sie Rees, das Tischtuch auszubreiten und Huhn, Pastete, Obst und eine Flasche Wein daraufzustellen.
Doch sie lehnte ein Glas ab. »Katerbier«, sagte Rees grinsend, »und ein sehr gutes dazu.« Er zwinkerte ihr zu. Er hielt einen Hähnchenschenkel in der Hand und futterte wie ein Bauer. Und wieder stand dieser verschlagene Ausdruck auf seinem Gesicht, und sie musste an die Muskeln unter seinem
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