Lady Marys romantisches Abenteuer
angestrengt, etwas erkennen zu können. Als die Schritte wieder zu hören waren, klangen sie langsam und schleifend. Um nicht zu stolpern oder zu fallen, tastete der Mann offenbar bei jedem Schritt vorsichtig den Steinboden ab. Er schnaufte unregelmäßig; jeder Atemzug schien ihm schwerzufallen. In der Dunkelheit klang sein Keuchen bedrohlich laut. Mary öffnete den Mund, um John etwas zuzuflüstern, doch irgendwie schien er es zu spüren, noch bevor sie etwas sagte, und legte ihr zart den Finger auf die Lippen, damit sie still blieb.
John rechnete also damit, dass der Mann an ihnen vorübergehen würde, ohne sie zu bemerken. Dann würden sie in der Dunkelheit verschwinden und endlich zur Außenwelt zurückkehren können.
Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie sich einmal so sehr nach der Sonne sehnen würde.
Immer noch kam der Mann näher und näher. Er sog ruckartig die Luft ein und atmete sie keuchend wieder aus. Mary konnte hören, wie der grob gewebte Rock sich am Hemd des Mannes rieb. Und da war noch ein anderes, gedämpftes, metallisches Geräusch, das sie nicht einzuordnen vermochte. Dann konnte sie ihn sogar auch riechen. Sein Körper und seine Kleider verströmten einen abgestandenen, ungewaschenen Geruch von Zwiebeln, Knoblauch und Schweiß. Leise stieß er auf Französisch einen Fluch aus und war nun so nahe, dass Mary nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren.
Plötzlich sprang John aus ihrem Versteck hervor auf den Fremden zu. Dann hörte sie ein Handgemenge und einen Schlag. Der andere Mann stieß pfeifend die Luft aus. Es folgte ein dumpfes Geräusch, als hätte jemand ein schweres Kissen zu Boden geworfen.
Danach war es wieder still.
Unfähig, sich noch länger ruhig zu verhalten, beugte Mary sich hinunter und nahm den Hut von der Laterne. Durch die Zufuhr an frischer Luft brannte die Kerze sofort heller und beschien den Mann im grünen Rock, der auf dem Boden lag. John stand über ihn gebeugt, eine Pistole in der Hand.
„Was haben Sie getan?“, rief Mary. „Großer Gott, wenn Sie ihn getötet haben …“
„Verdammt, Mary, ich habe ihn nicht getötet, er lebt ja noch“, erwiderte John scharf. „Alles, was ich getan habe, war, ihm mit dem Pistolengriff auf den Kopf zu schlagen, bevor er uns erschießen konnte.“
Er hockte sich neben den Mann und hob eine Pistole vom Boden auf, die der Kerl hatte fallen lassen, und hielt sie Mary hin. „Glauben Sie mir jetzt?“
„Es handelte sich nicht um eine Frage des Glaubens.“ Mary war immer noch entsetzt über das Geschehene, entsetzt wegen des regungslosen Mannes auf dem Boden vor ihr, entsetzt angesichts der Schnelligkeit, mit der John reagiert hatte, und über die Pistole. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er eine bei sich trug.
„Ich wusste nicht, dass Sie eine … eine Waffe tragen.“
„Sie haben mich nicht danach gefragt“, antwortete er, ohne den Blick von der fremden Pistole in seiner Hand zu wenden. „Es hat nichts zu bedeuten, Mary. Auf Reisen sind die meisten Männer bewaffnet, zumindest wenn ihnen ihre Sicherheit und ihre Person etwas wert sind. So wie Ihr eigener Vater, Sie merken es nur einfach nicht.“
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater so etwas tat. Ihr modern denkender Vater? Doch weil sie sich nicht sicher war, ließ sie seine Bemerkung durchgehen.
„Aber warum ist dieser Mann uns mit einer Pistole gefolgt? Wieso will uns jemand Böses?“
John antwortete nicht. Er rollte den Mann auf den Rücken und begann, seine Kleider zu durchsuchen.
„Was, um Himmels willen, machen Sie denn da?“, fragte Mary und war schon wieder schockiert. „Wir sollten für diesen armen Mann Hilfe holen, nicht in seinen Taschen herumwühlen!“
John sah auf. Im Licht der Laterne erschienen seine Züge hart. „Zum Teufel noch mal, warum sollten wir ihm helfen? Mary, der Mann war hinter uns her.“
„Er hatte keinen Grund …“
„Natürlich hatte er den. Wir kennen ihn bloß noch nicht, und ich kann keinen Fetzen Papier bei ihm finden, der uns mehr verraten könnte.“ Geschickt entspannte John die Pistole, klopfte die Kugel heraus und schleuderte dann die Waffe in die Dunkelheit. Er hatte Mary wegen ihrer praktischen Veranlagung geneckt, doch noch nie zuvor hatte sie einen Mann so rücksichtslos praktisch handeln sehen wie ihn. Welche Erlebnisse seines Lebens hatten ihn auf so etwas vorbereitet?
Er erhob sich, steckte seine eigene Pistole in seinen Rock und griff nach der Laterne.
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