Lady Marys romantisches Abenteuer
keine zehn Minuten lang trauen.“
Sobald sie konnten, hielten sie eine Kutsche an. John bot dem Kutscher den doppelten Preis, wenn er so schnell fuhr, wie es seine Pferde erlaubten. Mary sah aus dem Fenster, während sie die Stadt hinter sich ließen. Durch die Bäume, die die Straße säumten, schimmerten die Sterne. John hatte, was die Entfernung betraf, recht gehabt. Sie waren nur wenige Minuten gefahren, als die Kutsche langsamer wurde und neben einem lang gestreckten Hang, der mit Zierbäumen und Blumen bepflanzt war, stehen blieb. John sprang aus der Kutsche und half Mary beim Aussteigen.
„Kann ich eine Ihrer Laternen leihen?“, fragte er, und der Kutscher auf dem Bock nickte.
„Für das, was Sie bezahlt haben, Monsieur“, meinte er grinsend, „können Sie auch noch meine Pferde haben.“
„Warten Sie hier auf uns.“ John nahm eine der zwei kleinen Laternen aus ihrer Halterung vorne an der Kutsche. „Mit etwas Glück werden wir nicht weit gehen müssen.“
„Ich dachte, Gaston hätte Ihnen gesagt, sie seien zum Kanal gegangen“, sagte Mary, als er sie jetzt bei der Hand nahm und den Hügel hinaufführte. Schwer und süß erfüllte der Duft von Blüten die Nachtluft. Sie hatte solche üppig blühenden Büsche noch nie zuvor gesehen. „Von hier aus kann ich nirgendwo Wasser entdecken.“
„Sie werden es noch früh genug sehen“, meinte John. „Man sagt, die Anlage sei von demselben Gärtner entworfen, der auch die Blumenbeete von Versailles anlegte.“
Bald waren sie auf dem Hügel angekommen. Unter ihnen lag ein schmales Wasserband, das sich in alle Richtungen ausstreckte. Das gegenüberliegende Ufer hatte man umgegraben und zu einem Hügel aufgetürmt, der das Spiegelbild der Erhebung war, auf welcher Mary und John standen. Es schien, als schmiegte sich der Kanal hingebungsvoll in die vielblättrige Umarmung der gepflanzten Büsche und Blumen.
Vielleicht kam es Mary in dieser Nacht auch nur so vor.
„Di-an-a!“, rief sie und sah den Kanal hinauf und hinunter. „Diana, bitte, ich bin es, Mary!“
Zwischen den dichten Büschen und den dunklen Schatten schien es unmöglich, ihre Schwester und diesen Bauldet zu entdecken. Marys Verzweiflung wuchs. War Diana denn nicht klar, wie gefährlich es war, an einem so abgelegenen Ort zu sein?
John hielt die Laterne höher. Das Licht wirkte erbärmlich schwach in dieser schwarzen Nacht. „So etwas haben Sie schon öfter erlebt, nicht wahr?“
Mary seufzte. Was das betraf, hatte sie Vertrauen zu ihm.
„Ich habe es schon häufiger erlebt, als ich mich erinnern kann“, sagte sie traurig. „Und öfter, als ich es hätte erleben wollen. Dian-a!“
„Wird sie Ihnen antworten?“, fragte er. „Kommt sie, nur weil Sie nach ihr rufen?“
„Manchmal“, sagte sie. „Eigentlich meistens. Ich glaube, dass es oft ihr Gespiele ist, der der Vernünftigere ist und sie dazu bringt, zu mir zu gehen. Di-an-a, bitte! Ich bin es, Mary!“
„Dann hoffen wir mal, dass es mit Bauldet genauso ist.“ Er formte mit den Händen einen Schalltrichter und rief auf Französisch: „Bauldet, wenn Sie sich mit Lady Diana irgendwo verstecken, dann kommen Sie um Himmels willen hervor!“
Niemand antwortete.
„Di-an-a!“, rief Mary wieder und ging langsam den Kamm des Hügels entlang. Vielleicht hatte Gaston sich geirrt. Vielleicht waren Diana und Bauldet gar nicht hierher an den Kanal gekommen, sondern waren ein Dutzend Meilen entfernt. „Diana, wenn du mich hören kannst …“
„Und was ist, wenn ich es kann?“, rief Diana zurück. Ihre Stimme war leise, aber klar zu hören. Mit viel Geraschel tauchte sie unter den tief hängenden Zweigen einer nahen Buche auf. Sie hielt die Hand eines Mannes, in dem Mary Bauldet erkannte. Der wiederum führte seinen großen, braunen Wallach hinter sich her, den Mary ebenfalls von der Reise her kannte. Das Allerwichtigste jedoch war, dass ihre Schwester unverletzt schien und man ihr allem Anschein nach keine Gewalt angetan hatte. Ihr weißes Leinenkleid war heil und saß ordentlich.
„Es geht dir gut“, rief Mary mit erkennbarer Erleichterung. „Oh, Diana, es ist dir nichts geschehen.“
„Natürlich nicht, du Dummkopf“, erwiderte Diana wütend und entzog dem Franzosen die Hand, um die Arme vor der Brust zu verschränken.„Warum bist du mir gefolgt, Mary? Warum lässt du mich nie, nie mal allein?“
„Du weißt genau, warum, Diana“, betonte Mary, weil sie keine Lust hatte, ihrer Schwester vor den beiden
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