Lady meines Herzens
anzureden.
Sie bemerkte, dass er klugerweise darauf verzichtet hatte, die Weste zu tragen, die ihre Mutter für ihn ausgesucht hatte. Manchmal stürzte ihre Mutter sie in tiefe Verlegenheit durch das, was sie sagte oder wie viel sie sagte oder welche Kleider – und nun auch Westen – sie für den »letzten Schrei« hielt, obwohl sie alles andere als das waren. Clarissa verspürte einen eifersüchtigen Stich, weil Lord Brandon sich einfach weigern konnte, dieses abscheuliche Kleidungsstück zu tragen. Er musste keine Tirade von ihrer Mutter fürchten. So mutig würde sie niemals sein.
Nach einem Moment des Schweigens regte sich in Clarissa die Hoffnung, sie könnten weiterhin einfach nicht reden und nur tanzen. Sie begann sich zu entspannen, zumindest ein bisschen. Lord Brandon war ein großer Mann und trug ein Verhalten zur Schau, das geradezu vor Macht, Kontrolle und Dominanz sprühte. Er war zugleich auch so reserviert … Sie wusste nie, was sie zu ihm sagen sollte, was aber im Grunde egal war, da sie oft genug einfach zu verlegen war, um überhaupt ein Wort herauszubringen.
Er unternahm ebenso wenig einen Versuch, das Gespräch aufrechtzuerhalten oder ihre Beziehung zu vertiefen. Trotzdem, er war ein guter Mann. Er würde sie gut behandeln. Und sie würde ihr Bestes geben, ihm eine gute Ehefrau zu sein.
Vielleicht konnte sie für die Dauer des Walzers einfach schweigen und ihn anlächeln, während er sich beeindruckend und würdig gab, wie es einem Duke anstand.
Aber dann sprach er sie doch an, und er stellte ihr die merkwürdigste Frage, die sie sich in diesem Augenblick hätte denken können. »Finden Sie, dass Liebe für eine Ehe zwingend nötig ist?«
»Wie bitte?«
»Glauben Sie, Liebe ist eine notwendige Voraussetzung für eine Hochzeit?«
»Meine Mutter sagt, Liebe sei etwas, das sich im Laufe der Zeit zwischen Ehepartnern entwickelt. Wenn man sich vor der Hochzeit verliebt, riskiert man, sich dumm zu verhalten und unnötige Gefahren einzugehen. Tatsächlich möchte ich behaupten, dass Liebe in den Augen meiner Mutter eine schlimme Krankheit ist«, schloss sie.
Ihre Mutter erzählte ihr immer wieder die Geschichte von ihrer lieben, verstorbenen Schwester Eleanor, deren leidenschaftliche voreheliche Liebesaffäre sie erst gesellschaftlich ausgrenzte, dann ihr Herz brach und sie ruinierte, ehe sie verstarb. Jene schicksalhafte Affäre hatte ihre Mutter nachhaltig beeinflusst, und Clarissa vermutete insgeheim, ihr eigenes Leben hätte vollkommen anders verlaufen können, wenn die Sache für Tante Eleanor nicht so katastrophal ausgegangen wäre.
Es gab ein Gemälde, das die beiden Schwestern zeigte. Es hing im Salon ihrer Mutter über dem Kamin. Clarissa, ihre Mutter und ihre verstorbene Tante waren einander sehr ähnlich mit dem honigfarbenen Haar, den großen blauen Augen und der gertenschlanken Figur. »Wenn Eleanor noch leben würde«, sagte ihre Mutter oft und seufzte. Sobald Clarissa nicht aufs Wort gehorchte, was ohnehin viel zu selten vorkam, wurde sie ermahnt, sich an das Schicksal der armen Tante Eleanor zu erinnern.
»Ich würde nicht so weit gehen wie Ihre Mutter und behaupten, Liebe sei eine schlimme Krankheit. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Liebe und Leidenschaft verleiten die Menschen dazu, sich irrational zu verhalten und falsche Entscheidungen zu treffen«, dozierte er. »Man sollte stattdessen eine liebevolle und ungezwungene Beziehung zwischen Mann und Frau anstreben.«
»Ich bin sicher, wir werden dieses Glück haben«, sagte Clarissa, weil sie das Gefühl hatte, es sei richtig, es zu sagen.
Wenn Lord Brandon sie gefragt hätte, was Clarissa über die Liebe dachte – was er natürlich nicht tat –, hätte sie ihm erklärt, dass sie nicht genug darüber wusste, um eine differenzierte Antwort zu geben. Ihre eigenen Eltern tolerierten einander allenfalls. In der Bibliothek von Richmond House gab es keine Romane – höchstens zutiefst tragische Liebesgeschichten. Gedichte waren verboten. Theaterstücke waren nur eine gute Entschuldigung, um ins Theater zu gehen, und man schenkte nie dem Stück auf der Bühne seine Aufmerksamkeit, sondern plauderte die ganze Zeit angeregt mit Bekannten und Freunden. Clarissa hatte keinen Grund zu glauben, dass Liebe keine Tragödie nach sich zog.
Sophie nahm ein Glas Champagner, den ein Lakai auf einem Tablett herumreichte, und wandte sich ab. Sie wollte nicht sehen, wie Lord Brandon und Lady Clarissa tanzten. Sophie nahm einen Schluck und
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