Lady meines Herzens
ihn als über jeden anderen Menschen. Die seltsamen Narben auf seinen Wangen – zarte Schmisse direkt unterhalb seiner hohen Wangenknochen – hatte er sich im Alter von sechzehn Jahren bei einem Duell mit einem viel älteren Fechtmeister zugezogen, der die Familie von Vennigan beleidigt hatte. Vor Kurzem hatte er seinen achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und las gerne Wordsworth und die Dichter der Romantik. Er sprach sechs Sprachen und konnte in zwölf Sprachen fluchen. Er hatte drei Schwestern und war der mittlere von drei Brüdern. Er glaubte, sie müsste als Einzelkind früher schrecklich einsam gewesen sein.
Sie erzählte ihm Dinge, die sie sonst noch nie jemandem erzählt hatte. Ja, es war als Einzelkind oft schrecklich einsam gewesen, und sie hatte sich oft Geschwister gewünscht oder wenigstens mehr Freunde. Für ihre Mutter war aber niemand gut genug gewesen, was Clarissa als unfair empfunden hatte. Sie war erst vor Kurzem zwanzig geworden, sprach französisch und kannte keinen einzigen Fluch. Sie wünschte, er könnte ihr ein paar beibringen.
Vielleicht waren es auch nicht eine Million Gefühle, sondern nur ein ganz besonderes, zauberhaftes Gefühl: Sie fühlte sich von ihm verstanden. Er nahm sie so, wie sie war, und sah in ihr das, was sie sein konnte. Nicht wegen ihrer zarten Haut oder ihrer hübschen Augen oder ihres freundlichen Auftretens oder wegen der angesehenen Familie, aus der sie stammte.
Zum ersten Mal hatte sie ihre Mutter angelogen. Die Briefe, die sie fieberhaft den ganzen Tag geschrieben hatten, waren nicht für Sophie. Sie konnte wohl kaum zugeben, mit einem anderen Mann zu korrespondieren, noch dazu, wenn er Deutscher war! Ein deutscher Prinz wäre im Haus der Richmonds nicht willkommen. Nicht, nachdem der Vater ihrer Mutter von einem Deutschen getötet worden war. Aber das war für Clarissa ohne Belang. Sie hatte endlich ihren Märchenprinzen gefunden.
Und jetzt fühlte sie die sprichwörtlichen Schmetterlinge im Bauch; das war schon den ganzen Tag so, und sie hatte vor Aufregung nichts essen können. Wenn sie strahlte oder glühte, wenn sie besonders schön aussah und sich auch so fühlte, wenn sie das Gefühl hatte, auf Wolken zu gehen, und am liebsten laut singen wollte, dann lag das alles an Frederick von Vennigan, Prinz von Bayern und Prinz ihres Herzens.
Kurz nachdem Brandon den warmen, heillos überfüllten Ballsaal betreten hatte, erspähte er Sophie, die der Ecke des Raums, wo sich die alten Jungfern und Witwen versammelten, gefährlich nahe stand. Sie unterhielt sich angeregt mit Lady Rawlings.
Korrektur: Es konnte kein Gespräch zwischen Lady Rawlings und anderen Personen geben. Man diente eher als Zuhörer für ihre ausdauernden Monologe.
Eins stand fest: Brandon musste Sophie vor dem sicheren Tod durch Langeweile retten. Das war seine Entschuldigung dafür, dass er direkt auf sie zusteuerte. Wenn er ehrlich war, trieb ihn diese vorübergehende Verliebtheit dazu, überall nach ihr Ausschau zu halten, weil er jede freie Minute mit ihr verbringen wollte.
Schließlich blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Mit jedem Tag rückte die Hochzeit näher. Und nach der Hochzeit …? So weit wollte er nicht denken.
Nicht, wenn Sophie in ihrem lilafarbenen Kleid so hübsch aussah. Er wollte gerne mit ihr tanzen.
»Guten Abend, Lady Rawlings. Miss Harlow«, begrüßte er die beiden Frauen.
Sieben quälend lange Minuten später, nachdem sie eine ellenlange Litanei über Lady Rawlings diverse Zipperlein über sich hatten ergehen lassen, zog Brandon Sophie unter dem Vorwand mit sich, er müsse sie einem sehr, sehr lieben Freund vorstellen.
Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, sprach Sophie als Erste: »Wir nennen sie Lady Sperling.«
Er lachte auf. Ein paar Köpfe drehten sich in ihre Richtung. »Das ist brillant.«
»Wem möchten Sie mich denn vorstellen?«, fragte sie und blickte sich suchend um. Gott, sie ist so hinreißend.
» Ich fürchte, das war bloß ein Vorwand, um Sie aus ihren schwatzhaften Fängen zu befreien. Vielleicht sollten wir stattdessen lieber tanzen?«
»Oh, liebend gern«, sagte Sophie. Ihre Augen strahlten. Es freute ihn, dass er derjenige war, der diese Augen zum Strahlen brachte. Ihm blieben bis zu seiner Hochzeit nicht allzu viele Gelegenheiten … Nein. Daran wollte er jetzt nicht denken.
Sie stellten sich für den nächsten Tanz auf. Kein Walzer, wie er es sich gewünscht hätte, sondern ein langsamer Tanz mit komplizierten Schritten und
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