Laennaeus, Olle
ja bei der
Kundgebung auf dem Marktplatz selbst gesehen. Ein paar von ihnen haben mir gedroht,
sodass ich mich beeilen musste wegzukommen.»
Konrad nickt. Lässt den Blick durchs
Fenster nach draußen schweifen. Der ausgemergelte Mann, der neulich auf der Bank
vor dem Systembolag lag und vor sich hin döste, ist heute auch wieder da. Wohnt
er etwa dort? Man kann schon von weitem erkennen, dass er sich vollgepinkelt hat.
Seine hellgrauen Hosen sind im Schritt und an den Innenseiten der Oberschenkel
dunkel verfärbt. Aber es scheint ihn nicht zu kümmern. Sein Mund bewegt sich, und
es sieht aus, als schimpfe und wettere er lauthals, doch es ist keiner in der Nähe,
der zuhört.
«Aber Sie sind wegen Agnes hergekommen,
oder?», fragt Palander bedächtig.
«Ja, ich dachte ...»
«Es ist nämlich so, dass ich selber
neugierig geworden bin, als wir uns letztens getroffen haben. Also bin ich nach
Ystad runtergefahren und hab die Damen im Archiv der Zentralredaktion gebeten, mir
im Keller suchen zu helfen.
Die neueren Artikel befinden sich ja
im Computer, aber die alten, die sind noch auf Papier in Karteien abgelegt.»
Er zieht die unterste Schreibtischschublade
heraus und wirft drei braune Kuverts auf den Tisch. Sie riechen nach Staub und sind
an den Kanten abgegriffen. Auf dem oberen steht mit altmodischer Schreibmaschinenschrift
ganz oben: Schuld und Sühne. Tomelilla. 1968.
«Ich bin sie bereits durchgegangen»,
sagt Palander und fischt drei vergilbte Zeitungsausschnitte aus dem Kuvert, die
mit einer Büroklammer zusammengehalten werden. «Das hier ist alles, was es über
sie gibt.»
Alle drei Artikel sind mit der Signatur
«NS» versehen. Ein kurzer Artikel, eine Notiz und ein etwas längerer Text.
«NS steht für Nils Söder», erklärt
Palander. «Mein Vorgänger, ein komischer Kauz. Ich hab ihn nur kurz kennengelernt,
als ich Mitte der Siebzigerjahre hier anfing. Unscheinbarer Typ. Gehörte noch zur
alten Garde, die schrieb, was ihnen der Kommunalrat und der Polizeichef diktierten.
Kein großer Stilist, wie Sie feststellen werden.»
Konrad starrt auf die Zeitungsartikel,
die auf dem Schreibtisch liegen und auf ihn warten. Es ist, als riefen sie geradezu
nach ihm, als besäßen die spröden Papierfetzen, die so lange in ihren Umschlägen
gelegen haben, ein Eigenleben und täten nichts lieber, als ihm ihre Geschichte
zu erzählen. Dennoch zögert er. Er wagt sie kaum zu berühren. Was erwartet er?
Es sind schließlich nur eilig zusammengeschusterte Kriminalberichte, ein Routinejob
eines Redakteurs, der mit Sicherheit keine intensiveren Nachforschungen auf eigene
Faust betrieben hat.
Dennoch zittern ihm die Hände, als
er den ersten Artikel zur Hand nimmt. Frau auf mysteriöse Weise verschwunden, lautet die Überschrift.
Der Text ist knapp gehalten und scheint
einen Kriminalkommissar mit Namen Kurt Nilsson direkt zu zitieren. Es wird berichtet,
dass eine dreißigjährige Frau, wohnhaft in Tomelilla, spurlos verschwunden ist.
Ihr Verschwinden wurde den Behörden bekannt, als Nachbarn bemerkten, dass der siebenjährige
Sohn der Frau unbeaufsichtigt war. Der Junge befindet sich inzwischen in der Obhut
der Sozialfürsorge.
Wir wissen noch nicht, ob es sich um
ein Verbrechen handelt oder ob die Frau den Ort aus eigenen Stücken verlassen hat, wird Kommissar Nilsson zitiert.
Konrad versucht, hinter den Sinn der
Buchstaben zu kommen. Er sieht einen kleinen drahtigen Jungen einsam am Küchentisch
in einer leeren Wohnung sitzen. Der Wind zerrt an einer großen dunklen Kastanie
vor dem Fenster. Der Junge hat Magenschmerzen, nicht nur vor Hunger. Er wartet darauf,
dass jemand kommt. Horcht, ersehnt Schritte auf der Treppe.
Konrad hebt den Kopf und schaut Palander
an, der ihn gespannt beobachtet, als wolle er nicht die geringste Reaktion verpassen.
Der zweite Artikel enthält lediglich
eine kurze Notiz und ist auf den Tag nach dem ersten datiert. Redakteur Söder bestätigt,
dass die Polizei immer noch keine heiße Spur hat, die Ermittlungen jedoch fortgesetzt
werden.
Der dritte Text ist der längste. Das
Papier ist an den Rändern ausgefranst und spröde; es fühlt sich an, als würde es
jeden Moment zu Staub zerfallen. Der Artikel ist eine Woche nach dem Verschwinden
geschrieben. Die Polizeiarbeit scheint abgeschlossen zu sein, und man gewinnt den
Eindruck, als hätte Nils Söder sich entschieden, die Ereignisse mit einer etwas
ausführlicheren Version abzurunden, in der er sich auch eigene Gedanken
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