Laennaeus, Olle
wieder auf.
«Ich weiß nicht. Sie haben gesoffen,
seit ich denken kann. Aber sie waren nie gewalttätig. Weder gegen einander noch
gegen uns Kinder. Sie sind wohl einfach nicht mit dem Leben klargekommen. Ich glaub,
Sven hat am meisten darunter gelitten.»
Ein vages Gefühl von Unruhe breitet
sich in Konrads Magen aus.
«Für ihn war es die Hölle, musst du
wissen», fährt Gertrud mit einer neuen Intensität in der Stimme fort.
Ihr schiefer Blick, in den er sich
sozusagen hineinsuchen muss, um ihm zu begegnen, macht ihn unsicher. Konrad blickt
aufs Meer und weiß nicht, was er sagen soll. Sich nach dreißig Jahren entschuldigen?
Er findet irgendwie nicht die passenden Worte.
«Ich muss mit ihm reden, jetzt, wo
ich hier bin», sagt er schließlich.
«Das solltest du tun», entgegnet sie.
Die Begegnung mit Sven kann er noch
eine Weile aufschieben. Er unterdrückt die Unlust. Und erkennt in Gertruds Gesicht,
dass sie genau weiß, was er gerade fühlt.
«Wo sind eigentlich deine ganzen Geschwister
hin?», fragt Konrad unvermittelt.
«In alle Winde verstreut», antwortet
sie. «Wenn man sich mit zehn Geschwistern unter einem Dach drängeln muss, ist es
vielleicht nur natürlich, dass man so weit wie möglich weggehen will, sobald man
die Möglichkeit dazu hat. Zu einigen hab ich Kontakt, einer ist in Mamas und Papas
Fußstapfen getreten. Und Lelle sitzt in Kirseberg.»
«Im Gefängnis?»
Konrad sucht in seiner Erinnerung.
Ein verschwommenes Bild von Svens älterem Bruder taucht in seinem Kopf auf. Lelle,
der Heißsporn mit dem finsteren Blick. Einer der mittleren Brüder. Von ihm hieß
es, dass er einmal drei Polizisten vor der Disco den Kiefer ausgerenkt hatte. Wurde
damals als lebensgefährlich eingestuft. Konrad ist nicht überrascht.
«Er wurde wegen Mordes zu dreizehn
Jahren verurteilt. Lebenslänglich. Ist bei 'nem Libanesen eingebrochen, der am Möllevängstorg
Amphetamin vertickte, und hat ihn erstochen.»
Sie sieht Konrad mit leerem Blick an.
«Wir schreiben uns. Er hat... seinen
Gott gefunden, behauptet er jedenfalls. Ich glaube, dass er es auch so meint.»
Eine schwache Brise vom Meer weht ihr
eine Haarsträhne in die Stirn. Sie streicht sie gedankenverloren mit der Hand weg.
«Und du selber?», fragt Konrad leise.
«Ich?»
Sie wirkt geradezu erstaunt.
«Als Mama und Papa gestorben sind,
bin ich abgehauen, so schnell ich konnte. Sven ist dageblieben. Er wohnt seitdem
im Haus. Ich bin erst mal in einer Kommune in Lund gelandet. Total verrückter Haufen.
Hab 'n bisschen Literaturwissenschaft studiert und nebenbei im Krankenhaus gejobbt.
Dann war ich ein paarmal mit dem Rucksack in Asien. Kam wieder zurück und hab 'ne
Ausbildung als Krankenschwester gemacht. Ach, und was deine Frage betrifft, so
lautet die Antwort: ja.»
Konrad versteht nicht, was sie meint.
Sie muss angesichts seines verwirrten Gesichtsausdrucks lachen.
«Das war doch das Erste, was du gefragt
hast, als wir uns im Hotel begegnet sind. Bist du verheiratet?»
«Aha ... und das bist du also?»
Sie nickt und sagt mit einer Unberührtheit,
die nur gespielt sein kann:
«Japp! Verheiratet und dann geschieden.
Hab mich in einen Mediziner verliebt. Wie in einer von diesen Arztserien, du weißt
schon. Er war gut aussehend und intelligent. Joakim hieß er. Wir haben geheiratet,
sind nach Stockholm gezogen und haben zehn Jahre lang in einem Reihenhaus in Viksjö
gewohnt, bis ich gemerkt hab, dass er ein Idiot war.»
«Du hast keine ...?»
«Kinder? Nein, ich ...»
Gertrud bricht mitten im Satz ab, als
hätte sie es sich anders überlegt und beschlossen, das Thema nicht weiter auszuführen.
«Warum fallen eigentlich so viele hübsche
Frauen auf Idioten rein?», fragt Konrad aufrichtig verwundert.
Sie bricht in schallendes Gelächter
aus, und er schaut sie erstaunt an, ohne zu verstehen, was daran so lustig war.
«Das klang ja geradezu wie 'ne absolut
filmreife Szene», sagt sie, als sie sich wieder gefangen hat, und wischt sich eine
Träne aus dem Augenwinkel.
Konrad kann nicht umhin, etwas beleidigt
zu sein, obwohl er weiß, dass sie recht hat.
Plötzlich drückt Gertrud ihm einen
Kuss auf die Wange und springt schnell auf.
«Komm, es ist Zeit zurückzufahren.»
KAPITEL 20
D as Blatt Papier
vor ihm ist leer. Die Hand umfasst den Stift, er hat gerade den Fernseher ausgeschaltet,
und jetzt kann er nicht anders, als zuhören.
Ahmed sollte seinen Samen nicht auf
diese Weise vergeuden, denkt er wieder einmal
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