Laienspiel
Spurensicherer schien die ganze Nacht durchgearbeitet zu haben: Sein Gesicht war blass und grau, seine Augen waren rot unterlaufen. Die Haare klebten strähnig am Kopf, einzelne Büschel standen in alle Richtungen ab. Mit müdem Blick sah er kurz über seine Hornbrille hinweg zu Kluftinger und dann in Zeitlupentempo wieder auf den Tisch. Er schien kaum mehr die Lider offen halten zu können.
Faruk Yildrim hingegen wirkte, abgesehen von einem dunklen Bartschatten, frisch und fit. Dennoch vermutete der Kommissar, dass auch er nicht geschlafen hatte. Vor allem wegen der Kleidung, die er gestern schon getragen hatte.
»Guten Morgen, Kollege«, wurde der Kommissar von Yildrim begrüßt.
»Guten Morgen, Chef«, antwortete Kluftinger und stutzte sofort über die Anrede, die er gewählt hatte. Yildrim lächelte.
»Und? Irgendwelche Ergebnisse?«, wollte der Kommissar wissen.
»Wir haben gleich eine große Konferenz, da gibt es alles im Detail. Vorab nur so viel: Wir haben beinahe eine Hundertschaft zur Unterstützung angefordert. Zahlreiche Beamte der Allgäuer Polizei werden wir heute noch in den Fall einweihen. Die Zeit läuft uns davon, und wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir nicht mehr anders können. Im Laufe des Tages werden weitere Kollegen aus Wiesbaden, München und Berlin dazukommen. Zum Glück ist das Allgäu über Memmingen mittlerweile problemlos mit dem Flugzeug erreichbar. Wir haben nach wie vor keine Spur von dem Mann, den Sie damals im Internetcafé beschattet haben, diesen Latif Morodov. Aber wir wissen, dass auf ihn vorgestern ein Auto zugelassen wurde. Sie brauchen gar nicht erst zu raten, welche Marke. Den Wagen untersuchen die Kollegen gerade. Es ist von unschätzbarem Wert, dass Sie ausschließen können, dass der Mann, der gestern in der Disko … gestorben ist, Morodov ist. Wir hätten sonst nicht weiter nach einem anderen gesucht.«
Kluftinger nickte: »Es gibt keinen Zweifel. Morodov ist deutlich dicker. Und er hinkt ein wenig. Den hätten wir nach zweihundert Metern gestellt. Aber wissen wir denn schon, wen wir da gestern …«
Yildrim ließ Kluftinger nicht ausreden, er antwortete hastig. Kluftinger hatte das Gefühl, als ob er das Wort »erschossen« gar nicht erst hören wollte. »Leider nicht. Aber die erste Obduktion in der Gerichtsmedizin Memmingen hat ergeben, dass er nicht an der Schussverletzung, sondern am Sturz von der Brüstung gestorben sein muss.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Kluftinger. Yildrim nickte. Auch wenn es am Ergebnis nicht das Geringste änderte.
»Wie dem auch sei: Unser vorrangiges Ziel ist die Ermittlung seiner Identität. Ich sehe dort den Schlüssel zum weiteren Vorgehen. Und wenn wir wissen, welcher Sprengstoff benutzt wurde, können wir auch in diese Richtung weiter vorangehen.«
»Und das ferngesteuerte Auto? Ich denke, auch da sollten wir schauen, wer so etwas hier in der Gegend vertreibt. Vielleicht haben wir ja Glück.«
»Gut mitgedacht, Herr Kluftinger.«
»Danke«, sagte Kluftinger und fühlte sich heute zum zweiten Mal ein wenig geschmeichelt.
»Die Wohnung von Morodov wird übrigens noch immer gefilzt. Wäre doch gelacht, wenn uns das nicht weiterbrächte.«
Yildrim schien jegliche Lethargie und Resignation, die ihn und seine Gruppe noch vor Kurzem so gelähmt hatten, abgelegt zu haben. Er war allem Anschein nach fest davon überzeugt, den Wettlauf gegen die unerbittlich rückwärts laufende Uhr zu gewinnen. Kluftinger tat dieser Optimismus gut.
»Und die Presse?«, wollte der Kommissar wissen.
»Fragt unentwegt nach und frisst alles, womit wir sie füttern.«
»Haben das nur die lokalen Medien mitbekommen oder zieht das schon nationale Kreise?«
»Ich denke, mittlerweile dürfte es eine nationale Meldung sein, dass gestern in Kempten ein internationaler Drogenring aufgeflogen ist. Dank des Großeinsatzes von Beamten und einer vorherigen mehrmonatigen Beteiligung des BKA …« Yildrim unterbrach seinen Satz und erklärte: »… das rechtfertigt unser Auftreten hier in deren Augen … dank uns also konnte man alle wichtigen Mitglieder dingfest machen.«
Kluftinger war mehr als erstaunt: »Und das haben die Ihnen abgekauft?«
»Hören Sie sich doch selbst mal die Nachrichten an.«
Eine halbe Stunde später saßen etwa fünfzig Beamte im großen Saal der Polizeidirektion Kempten. Yildrim hatte Kluftinger gebeten, die Begrüßung zu übernehmen und ein paar einleitende Worte zu sagen. Schließlich hatte der Deutschtürke
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