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Laienspiel

Laienspiel

Titel: Laienspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kobr Volker Klüpfel
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die dumpfen Stimmen der Spieler aus den Lautsprechern der Tribüne.
    Kluftinger hielt inne und atmete tief ein. Er liebte es, wenn die Luft wieder nach etwas roch, im Gegensatz zum Winter, wenn alles in eine olfaktorische Starre versank. Die Laubbäume hatten das Lindgrün des Frühjahrs bereits verloren und wirkten kraftstrotzend. Die Sonne schickte ihre letzten orangefarbenen Strahlen über das Tribünendach auf die Spielfläche. Auch wenn es ihm manchmal seltsam vorkam, dass sich so viele Altusrieder, ganze Familien sogar, nach Feierabend in albern aussehende Kostüme warfen, um sich mit Mistgabeln und Dreschflegeln die Köpfe einzuschlagen, durchströmte ihn in diesem Moment ein großes Glücksgefühl, an etwas so Außergewöhnlichem wie dieser gemeinschaftlichen Inszenierung teilhaben zu dürfen.
    Doch ein spitzer Schrei, der unverkennbar von Regisseur Heinrich Frank ausgestoßen worden war, beendete sein Schwelgen. Er kniff die Augen zusammen und blickte an der Tribüne vorbei Richtung Bühne. Er versuchte zu erkennen, welche Szene gerade geprobt wurde: Er erkannte ein Pferd ohne Reiter auf der Bühne, ein Mann kniete auf dem Boden, und aus allen Ecken kamen Frauen in zerlumpten Kleidern gelaufen, begleitet von Männern in ähnlichen Leggins wie er eine trug. Sie ruderten aufgeregt mit den Armen und deuteten auf den Mann, der am Boden kniete: Selbst ein Passant, der zufällig auf die Szene gestoßen wäre, hätte das nicht als echten Tumult gedeutet, zu ausladend waren die Gesten der Laienspieler, die damit ihrem großen Auftritt zusätzliche Dramatik und Glaubwürdigkeit verleihen wollten. Kluftinger lächelte: Nun war ihm auch klar, weshalb der Regisseur geschrien hatte, denn seit Monaten versuchte er vergeblich, den Statisten genau diese übertriebenen Gesten abzutrainieren – offensichtlich mit bescheidenem Erfolg.
    Doch dann verschwand das Lächeln aus dem Gesicht des Kommissars: Ihm wurde klar, dass hier gerade Gesslers Sterbeszene geprobt wurde, der Moment, kurz nachdem Tell ihn mit der Armbrust erlegt hat. Kluftinger fragte sich bei dieser Stelle immer, wie er mit einem solchen Mann wohl umgehen würde. Im Stück wurde Wilhelm Tell als der große Held gefeiert, der Befreier, der Freiheitskämpfer. Doch er war auch ein kaltblütiger Mörder.
    Würde ihm heute der Prozess gemacht, würde er ohne Zweifel lebenslänglich bekommen. Einen Strafmilderungsgrund nach heutigem Rechtsverständnis konnte er nicht erkennen: Weder war der Protagonist in Schillers Stück betrunken, noch waren seine Sinne sonst irgendwie getrübt. Auch einen Affekt konnte man ihm kaum unterstellen. Er hatte die Tat minuziös geplant und eiskalt durchgeführt. Natürlich hatte er so einen Tyrannen zur Strecke gebracht, aber spielte das eine Rolle? Es war reine Selbstjustiz, die Tell verübte, kein Gericht hatte ihn zu der Hinrichtung ermächtigt. Letztlich war es ein terroristischer Akt gegen den Repräsentanten einer verhassten Staatsmacht, den Tell hier beging. Im wahren Leben würde Kluftinger so etwas nie dulden, im Stück konnte er manchmal nicht anders, als von der Begeisterung über den entschlossen handelnden Schweizer mitgerissen zu werden.
    Der entfernt herüberklingende Glockenschlag der Kirchturmuhr im Dorf beendete Kluftingers gedanklichen Exkurs in die Rechtsphilosophie. Er sah auf die Uhr: Wenn er sich beeilen würde, könnte er es vielleicht gerade noch rechtzeitig zu seinem Auftritt schaffen, der unmittelbar im Anschluss folgen würde. Frank würde dann überhaupt nicht registrieren, dass er sich verspätet hatte.
    Von dieser Hoffnung angetrieben, beschleunigte er seinen Schritt und verschwand in den Katakomben, um sich sein Ansteck-Mikrofon zu holen. Dann schlich er sich auf einem Umweg über eine kleine Brücke hinter die Szene an das andere Ufer des Baches, denn nur so konnte er sich von der Tribüne aus ungesehen in die Volksmenge mogeln. Er blickte auf das an dieser Stelle noch relativ seichte Gewässer. Weiter vorn hatte man es aufgestaut, um den Vierwaldstädter See darzustellen.
    Kluftinger suchte mit seinen Blicken die Wasseroberfläche nach daraus hervorragenden Steinen ab, über die er ans andere Ufer zu balancieren gedachte.
    »Ach, das hat heute sowieso keinen Sinn mehr, gehen wir zur nächsten Szene«, hörte er plötzlich den Regisseur über Lautsprecher seufzen. »Alles bereit für Auftritt Altdorf bitte.«
    Das war Kluftingers Stichwort. Er musste sich beeilen, wenn er es noch rechtzeitig schaffen

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