Lallbacken
Osten ergaben wegen der geringeren Löhne 120 000 neue Stellen, zusammen 420 000 neue Stellen. Das reichte nicht. Bei einer Fünfzig-Stunden-Woche reichte es nach Stoibers Rechnung für 1,62 Millionen, bei einer Sechzig-Stunden-Woche für 2,82 Millionen neue Stellen.
Und dieser Rechenkünstler hat in Bayern Wahlen gewonnen.
Um den Horizont der präsidialen Experten abzurunden, sei eine ganz wichtige Lallbacke, der Daimler-Boss Dr. Dieter Zetsche, zitiert: »Die Welt hat das Automobil in 125 Jahren entscheidend weiterentwickelt, aber gleichermaßen hat das Automobil die Welt dramatisch verändert.« Wer hätte das gedacht: Rhabarber ist und bleibt Rhabarber.
Wenn die bedeutendsten Wirtschaftsführer in ihren Äußerungen eine Trefferquote erreichten wie mäßig begabte Kohlrüben, konnte man nur staunen, wie gut die deutsche Wirtschaft trotzdem funktionierte.
»Der Kampf gegen das internationale Finanz- und Leihkapital ist zum wichtigsten Programmpunkt des Kampfes der deutschen Nation um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und Freiheit geworden.« Das hat keiner der aktuellen deutschen Wirtschaftsexperten gesagt, das ist ein Zitat aus Mein Kampf von Adolf Hitler.
Franz Müntefering, Freund einer einfachen Ausdrucksweise, führte den Gedanken weiter: »Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.«
Anonyme Finanzinvestoren waren also die wahre Heuschreckenplage, wie sie beschrieben ist im zweiten Buch Mose im zehnten Kapitel: Wanderheuschrecken, bis zu 25 Zentimeter lang und mit schrecklichem Beißwerkzeug ausgerüstet, die achte Plage, fressen alles weg, was die siebte Plage, der Hagel, den Menschen übriggelassen hat.
Und erklärend fügte Müntefering hinzu: »Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum. Kapitalismus ist brandaktuell.«
Ja, wer hätte das gedacht? Es hatte wirklich etwas Komisches, wenn ein Politiker plötzlich die sensationelle Entdeckung machte, dass sich hinter der harmlosen Tarnbezeichnung »die Wirtschaft« der schiere Kapitalismus und seine Politinsekten verbargen. Das konnte man ja nicht ahnen. Früher war es einfacher. Da gab es auch noch den sogenannten Sozialismus. Der hatte gegen den Kapitalismus gekämpft. Erfolglos. Jetzt wurde der Kapitalismus mit noch mehr Kapitalismus bekämpft. Das war als Kampf manchmal gar nicht so leicht zu erkennen.
Die SPD kämpfte so raffiniert gegen den Kapitalismus, dass der das kaum merkte. Und wenn ein namhafter Sozialdemokrat plötzlich den Kapitalismus lautstark in aller Öffentlichkeit kritisierte, dann war das geradezu ein Fanal: Achtung, alle mal herhören, Leute: Hier bekämpft die deutsche Sozialdemokratie den Kapitalismus! Und natürlich ganz energisch auch die Schwarzarbeit: »Das Volumen der Schwarzarbeit beträgt etwa 640 Milliarden, das kostet 650 000 reguläre Arbeitsplätze.«
Dummes Zeug, lautete die Antwort des Kenners der Verhältnisse, ohne Schwarzarbeit könnte so mancher Student nicht studieren, blieben viele Häuser ohne Dach, die Tourismusindustrie ginge pleite, und Mallorca würde wieder spanisch. Man musste nur mal in ein Reisebüro gehen und beobachten, wie viele Kunden ihre Urlaubsreise mit schwarz verdientem Bargeld bezahlten. Steuerhinterziehung war kein Privileg der Parteien, sondern eher Volkssport, und Tipps, wie man das Finanzamt austrickste, waren ein beliebter Gesprächsstoff, vor allem unter Besserverdienenden.
Man hörte aber auch sagen: Alles kommt raus. Das sei doch ein Zeichen für die Stärke der Demokratie, und letztlich würde jede Affäre die Demokratie nur stabilisieren. Ob wirklich alles rauskommt, war fraglich. Aber mit dem Gedanken, dass die Qualität einer Demokratie mit der Anzahl ihrer Skandale stieg – damit konnte man sich anfreunden.
Als dann im Herbst 2008 das internationale Geschäft mit Geld und Kapital kollabierte, herrschte Konsens bei den Experten in den Talkshows, dass die Akteure strikt an die Kandare zu nehmen sind. Selbst die Forderung nach einer neuen Finanzordnung fand einen gewissen Widerhall. Banken und Konzerne boten aber auch ein wirklich erbarmungswürdiges Schmierentheater: Im staatstragend feierlichen Gewande bettelten aalglatte Dünnsäurekutscher aus dem Versicherungs- und Krankenkassenmilieu um ein wenig Zuwendung und servierten eine eklige Mixtur aus Kitsch, Heuchelei und Kommerz.
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