Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
abgedreht, aber an menschenfressende Raubkatzen glaubt sie bestimmt nicht.«
    »Sie wird dir glauben.« Luke deutete auf die Harfentasche. »Ist der Schlüssel da drin?«
    Ich nickte und sah zu, wie er ihn herausholte. Reglos blieb ich stehen, als er ihn mir wieder um den Hals hängte. Der Kratzer an meinem Nacken brannte ein bisschen, als die Kette darüberglitt. Er küsste die Haut neben dem Schlüssel und jagte mir damit einen Schauer über den ganzen Körper. Wieder legte er die Arme um mich und flüsterte mir ins Ohr, so dass nur ich ihn hören konnte: »Bitte, sei vorsichtig.«
    Das klang wie ein Abschied, aber ich wollte hier nicht allein auf Granna warten. »Gehst du weg?«
    »Ich behalte dich im Auge. Aber es würde ihr nicht gefallen, mich bei dir zu sehen.«
    Ich ließ ihn ein paar Schritte weit gehen, ehe ich die Frage doch noch stellte. »Warum warst du überhaupt hier?«
    Luke zuckte mit den Schultern. »Du wolltest doch gerettet werden, oder nicht?«

Neun
     
     
     
     
     
    Eine der positiveren Eigenschaften meiner Großmutter ist zugleich eine der anstrengendsten: Es ist praktisch unmöglich, sie aus der Fassung zu bringen oder in Panik zu versetzen. Wie Mom hat auch sie ihre extremeren Gefühle in eine kleine Schachtel gepackt, die sie nur zu besonderen Anlässen hervorholt. Mich mit blutigen Spuren übernatürlicher Verstümmelung zu sehen, galt offenbar nicht als besonderer Anlass.
    Statt sich also aufzuregen oder mir tausend Fragen zu stellen, half sie mir, die Harfe ins Auto zu verfrachten, holte ein mit Farbflecken übersätes Handtuch vom Rücksitz und breitete es über den Beifahrersitz, damit ihre nach Orangen und Lösungsmittel riechenden Veloursbezüge keine Blutflecke bekamen. Wortlos fuhr sie los.
    Ich befingerte meine Wunden, auf die ich ein ganz klein wenig stolz war. Verletzungen der allerbesten Sorte – sie sahen gruselig aus, waren aber nicht allzu schmerzhaft. Leider war all das an Granna vergeudet, denn Mitleid steckte in derselben Schachtel wie ihre übrigen Gefühle. »Hast du ein paar Taschentücher oder so?«
    Als sie vom Parkplatz abbog, warf ich einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel, in der Hoffnung, Luke irgendwo zu sehen, aber nur die Birken schauten uns stumm nach. Ich fragte mich, was mit dem Kadaver der Raubkatze geschehen würde.
    »Desinfektionstücher sind im Handschuhfach«, sagte Granna. »Wenn wir zu Hause sind, müssen wir die Wunden anständig säubern.«
    »Bei dir?« Ich hielt mitten in der Bewegung inne.
    Zum ersten Mal sah Granna mir ins Gesicht, und ich bemerkte erstaunt, wie groß die Ähnlichkeit mit Moms Augen hinter all den tiefen Falten war. »Willst du den Zustand dieses Kleids ernsthaft deiner Mutter erklären? Ich habe noch ein paar von deinen Sachen bei mir.«
    Also hatte Luke vielleicht recht. Sie würde mir glauben.
    »Was war es?« Ihre Stimme klang ruhig und gelassen. Ebenso gut hätte sie fragen können: »Wie war dein Auftritt?«, oder: »Hattest du heute einen schönen Tag?«
    Ich stieß einen Seufzer aus, ehe ich zu meinem eigenen Erstaunen mit der Wahrheit herausrückte. Ich schilderte ihr den ganzen Angriff, von dem verlorenen Ring bis hin zu Lukes Rettung. Den letzten Teil genoss ich besonders, weil sie ihn neulich so mies behandelt hatte. Ich ging davon aus, dass sie den Vorfall zu einer einfachen Geschichte ohne jede Leidenschaft und Gefahr reduzieren würde, aber zunächst schwieg sie. Es war still im Wagen, abgesehen vom Sirren der Reifen, die über die Schatten der Blätter auf der sommerlichen Straße rollten.
    Schließlich verzogen sich ihre Lippen. »Wir reden später darüber, wenn du wieder sauber bist.«
    Ich wusste nicht recht, weshalb saubere Sachen die bevorstehende Unterhaltung beeinflussen sollten, aber Granna zunerven war ebenso gefährlich, wie Mom zu piesacken. Schweigend legten wir den Weg bis zu ihrem alten L-förmigen Farmhaus inmitten eines Maisfelds zurück.
    »Die Sachen sind oben im Gästezimmer, in einem Fach im Kleiderschrank. Ich mache dir einen Tee.« Sie ging in die Küche, während ich die Treppe hinaufstieg.
    In Grannas Haus war es immer zugig, so heiß es draußen auch sein mochte, und im Gästezimmer war es am schlimmsten. Granna hatte einen bunten Flickenteppich auf den knarrenden, splitternden Dielenboden gelegt und bunte, abstrakte Bilder an die hell getünchten Wände gehängt. Trotzdem empfand ich den Raum stets als kalt, und das war nicht die Art Kälte, die einen zum Pulli greifen

Weitere Kostenlose Bücher