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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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blieb eine Armeslänge vor mir stehen. Aus der Nähe verschlug mir seine Fremdartigkeit den Atem. Seine tiefliegenden Augen waren so bodenlos wie die eines Falken, und ich sah, dass die goldene Strähne in seinem Haar buchstäblichgolden war. Jeder einzelne Faden schimmerte steif zwischen seinem braunen Haar. Seltsame braune Male zogen sich über seinen Hals – wie tätowierte Buchstaben, die jedoch aussahen, als wäre er damit geboren worden.
    »Deirdre Monaghan.«
    Beim Klang seiner Stimme brachen zahllose Erinnerungen über mich herein: Luke betrachtete die Leichen seiner Brüder im Graben, und der Jäger befahl ihm mitzukommen. Mit teilnahmsloser Miene drückte der Jäger Luke zu Boden, als eine Beschwörungen murmelnde Fee ihm mit Gewalt den Armreif anlegte. Der Jäger schleifte Luke von einem Brunnen fort und betrachtete ihn ohne jede Bösartigkeit. »Es gibt Arbeit für dich.« Luke spielte die Flöte, während der Jäger mit geschlossenen Augen und schiefgelegtem Kopf lauschte. Der Jäger schleifte Lukes blutigen Körper in einen riesigen Saal und zog dabei eine scharlachrote Spur bis zur Tür.
    »Nur Luke kann dich töten, solange du dieses Eisen trägst. Sei tapfer, Kind«, flüsterte Tom mir ins Ohr.
    Der Jäger sah ihn an. »Tom der Reimer, schweig still, sofern du kannst.«
    Er fühlte sich irgendwie
alt
an. Wenn ich ihn betrachtete, hatte ich das Gefühl, Tausende Jahre der Jagd vor mir zu haben. Seine Fremdartigkeit machte mir noch mehr Angst als Eleanors grausame Freude.
    Ich fürchtete mich davor, etwas zu erwidern. Es musste irgendeine Art Protokoll geben, das ich einhalten sollte, um ihn nicht zu beleidigen.
    »Was willst du von mir, Jäger? Solltest du mit einem Rudel wie diesem nicht Beute hetzen, die schwerer zu fangen ist?«
    Ein seltsamer Ausdruck trat auf seine Züge. »In der Tat.« Er musterte mich mit schmalen Augen. »In der Tat sind sie für eine so einfache Hatz fast zu schade.«
    »Du kannst sie nicht töten«, sagte Tom. »Weshalb jagst du sie dann überhaupt?«
    »Ich sagte, schweig still, Reimer.« Er wandte sich mir wieder zu. Die Stille schien sich endlos hinzuziehen. Schließlich griff er an seinen Gürtel und zückte einen langen beinernen Dolch, dessen Griff mit geschnitzten Tierköpfen verziert war. »Deirdre Monaghan, du bist ein Kleeauge, und darum musst du sterben.«
    Klar doch
. Er machte mir Angst, aber nicht so viel Angst, dass ich einfach sitzen bleiben und mich mit diesem Dolch abstechen lassen würde. Ich trat einen Schritt zurück, wobei ich beinahe über einen Hund stolperte. »Ich weiß, dass du mich damit nicht erstechen kannst.«
    Tom verzog neben mir das Gesicht. Zweifellos stellte er sich vor, wie schmerzhaft es wäre, diesen Dolch in den Körper gerammt zu bekommen, selbst wenn er mich nicht töten würde.
    »Leg dein Eisen ab«, befahl der Jäger. »Ich kann es an dir riechen.«
    »Den Teufel werde ich tun«, erwiderte ich. »Bleib zurück.«
    Der Jäger runzelte nicht einmal die Stirn. »Leg dein Eisen ab«, wiederholte er.
    Ich warf einen Blick über die Wiese. Der Nachmittag ging allmählich in den Abend über, und ich spürte die nahende Dunkelheit schon hinter dem Horizont, obgleich sie noch nicht zu sehen war. Sie war nicht besonders nahe, aber es würde genügen müssen. Etwas in mir griff nach der Dunkelheit, zog sie heran, ließ sie in mir anschwellen.
    Ich hob die Hand, und der Dolch flog hinein, als hätte ich ihn an einer Schnur zu mir gezogen. Der Griff prallte gegen meine Handfläche, und ein kleines Stück der Klinge fuhr durch meine Haut wie durch Butter. Ich zuckte zusammen und hätte beinahe den Dolch fallen lassen. Aber ich konnte es mirnicht leisten, also tat ich es nicht. Stattdessen hielt ich ihn fest gepackt, während ein dünnes Rinnsal Blut von der Elfenbeinklinge tröpfelte, und erhob sie gegen den Jäger.
    Meine Stimme zitterte. »Geh zurück zu ihr und sag ihr, dass ich meinen Freund wiederhaben will. Und ich will Luke.«
    Die Augen des Jägers waren auf mich gerichtet, als wollte er mir durch die Kraft seines Blickes den Dolch entreißen. »Ich gebe meine Beute nicht auf.«
    »Doch, das wirst du«, entgegnete ich und hielt den Dolch mit schierer Willenskraft ruhig. »Geh und richte ihr aus, was ich gesagt habe.« Ich streckte die andere Hand aus und stellte mir vor, die Hand eines Riesen drückte gegen die Brust des Jägers und packte ihn an der seltsamen Kleidung. Dann stieß ich mit der Riesenhand so kräftig zu, wie ich dank

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