Land der guten Hoffnung
Buchseiten steckte ein zusammengefalteter Zettel. Da mir niemand Beachtung schenkte, sah ich mir die Nachricht sofort an. Es waren wieder die bekannten Blockbuchstaben in handgeschriebenem Deutsch.
FAHREN SIE WEITER NACH HERMANUS. SCHAUEN SIE SICH DORT GEGEN 17 UHR AN WIE DIE WALE BLASEN.
Wenn die Zeilen tatsächlich von Timothy Butler stammten, schien er eine Vorliebe für die Schnitzeljagd zu haben. Ich steckte den Zettel ein, nahm das Taschenbuch und ging zur Kasse. Die Touristen verließen gerade den Laden. Die Deutsche, die das Geschäft führte, war entzückt über meine Wahl. Laurens van der Post sei vortrefflich, ließ sie mich wissen. Und das nicht nur, weil der legendäre Autor einmal den Buchladen ihres Vaters in Deutschland besucht und sie dabei tief beeindruckt hatte.
Als ich „Ex Libris“ verließ, musterte ich meine unmittelbare Umgebung. Ich kam mir vor, wie auf dem Präsentierteller. Möglicherweise nutzte die Person, die die Köder legte, meinen Auftritt in Stellenbosch, um sich vorab zumindest ein physisches Bild von mir zu machen. Vielleicht auch nicht.
Hermanus ist der größte Küstenort der Overbergregion und liegt an jenem Stück Küste zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und Kap Agulhas, an dem man nicht mehr so recht weiß, ob man sich noch am Atlantik oder schon am Indischen Ozean befindet.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Der Zeitplan diente nicht als Druckmittel, ließ mir genug Spielraum, um mich zurechtzufinden. Ich stellte meinen Wagen im Ortskern ab und ging zum Kliff über der Walker Bay. Schon die Anzahl und Größe der Parkplätze betonte die Bedeutung der Attraktion. Busladungen von Besuchern waren eingeplant, aber auch Ortsansässige fanden sich nach Feierabend ein, um das Schauspiel zu genießen. Die Menge starrte bloßen Auges oder durch Ferngläser auf das glasklare Küstenwasser, in dem sich, in nächster Nähe zum Ufer, mehrere Wale mit ihren Kälbern tummelten. Ab und zu blies eines der Tiere, und die Zuschauer jauchzten und klatschten Beifall. Kenntnisreiche Führer hielten ihren Reisegruppen sachkundige Vorträge, und in der halben Stunde, die ich dem Schauspiel folgte, bekam ich genug mit, um mir bescheidene Grundkenntnisse anzueignen. Angeblich übertrug sogar ein Unterwassermikrophon die Gesänge der Wale live in den Audioraum des Old Harbour Museums. Die Tiere standen überhaupt hoch im Kurs. In südafrikanischen Gewässern, so bekam ich mit, durfte man sich einem Wal nicht auf weniger als dreihundert Meter nähern, ohne eine drastische Bestrafung zu riskieren.
Als ich einen Blick auf die große Schautafel mit Abbildungen diverser Spezies warf, hörte ich unmittelbar hinter mir eine Stimme, die mir vertraut war.
„Danke, dass Sie pünktlich sind.“
Ich drehte mich um. Stan Wishbone trug Safari-Khaki, leichte Gummistiefel und eine Anglermütze mit langem Schirm.
„Kommen Sie! Und bitte keine Fragen.“
Ich folgte ihm über die Klippen und zum Ufer hinunter, bis wir eine kleine Landungsbrücke erreichten und in ein offenes Boot sprangen. Routiniert bediente Wishbone Leinen und Außenbordmotor und steuerte das Boot bei unruhiger See und stets in Ufernähe eine halbe Stunde die Küste entlang. Der Motor röhrte, und Wishbone gab sich wortkarg. Der Anblick der zahlreichen Buchten mit rauen Felsklippen, winzigen Kiesel- und Sandstränden und türkisfarbenem Wasser war unterhaltsam genug, und Robben und Pinguine taten das ihre dazu, mir die Zeit zu vertreiben. Sogar eine Pavianherde hetzte durch die dichte Wildnis am Ufer. Die Gischt durchnässte meine leichte Kleidung, doch bevor es mir zu kühl wurde, nahm Wishbone das Gas zurück, und wir tuckerten mit niedriger Drehzahl auf einen langen Holzsteg zu, der einsam aus dem sonst völlig unzugänglichen Dickicht hervorragte. Jeder Quadratmeter Küstenlinie war mit dichtem Gestrüpp bewachsen, das hart, dornig und abweisend wie ein natürlicher Schutzwall bis unmittelbar ans Wasser wucherte. Die Vegetation schloss sich so eng um Poller und Planken, als sei die Anlegestelle vom Land abgeschnitten. Weit und breit war kein Zeichen der Zivilisation zu sehen, nicht einmal ein Warnschild.
Wishbone machte das Boot fest und führte mich über den Steg auf einen Pfad, der so schmal war, dass Stacheln und Dornen wie Piranhazähne nach mir schnappten. Mitten in diesem natürlichen Käfig blieb Wishbone stehen, bedeutete mir, die Arme hochzunehmen und klopfte mich auf Waffen ab. Erst jetzt bemerkte ich seine Pistole. Er trug
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