Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
lernt draus für alle Zeit,
dass weder Gold noch Edelstein
entscheidet, wer am Jüngsten Tag
wird reinen Herzens sein.
Gerade hatte der Junge sein Lied beendet, da klopfte es an der Tür seiner Kammer. Erwyn glaubte, dass es Urys war, der ihn aufsuchte, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass er die Gildenschule schwänzte. Doch als er den Besucher zum Eintreten aufgefordert hatte und sich die Tür öffnete, betrat einer der Fremden seine Kammer.
Es war ein alter Mann. Eine weiße Robe umfloss seine schlanke Gestalt, und dazu trug er einen purpurnen Umhang. Sein Haupt war kahl, dafür hatte er einen sehr langen grauen Bart, der einem Zwerg zur Ehre gereicht hätte. In der Hand hielt er einen kunstvoll gearbeiteten Stab aus Eschenholz, und sein ruhiger, aber wissender Blick schien bei Erwyn eine alte Erinnerung zu wecken…
»Ein schönes Lied«, sagte der Fremde und deutete zum Gruß eine Verneigung an.
»Eher ein trauriges Lied«, entgegnete Erwyn, »denn es handelt von Garwys dem Unseligen, dessen Gier die Zwerge einst nach Urgulroth führte, sodass sie das Böse weckten, das dort schlummerte.«
»Es freut mich, dass man in Glondwarac noch immer die alten Lieder singt«, sagte der Besucher lächelnd. »Du findest also immer noch mehr Gefallen an Musik und Gesang als an wertvollen Edelsteinen.«
»Das stimmt«, bestätigte Erwyn. »Ich schmiede auch lieber Verse als Metall, und eine goldene Kehle ist mir lieber als ein goldener Krug. Aber…« Seine Augen verengten sich, und er schaute misstrauisch. »Woher wisst Ihr das?«
Wieder lächelte der Fremde. »Ich weiß vieles über dich, mein junger Freund. Mehr, als du ahnst, und wohl auch mehr, als du selbst von dir weißt.«
»Sind wir uns denn schon einmal begegnet?«, fragte Erwyn und runzelte die Stirn. »Ich erinnere mich nicht an Euch, und dennoch kommt Ihr mir bekannt vor.«
»Du warst noch ein kleines Kind damals, als ich dich und deine Mutter hierher brachte.«
»Aber dann«, rief Erwyn aufgeregt, »dann müsst Ihr Yvolar sein!« Und er sprang vom Bett auf und starrte den Druiden aus großen, ehrfürchtig geweiteten Augen an. »Endlich lerne ich Euch kennen, Meister Yvolar! Man hat mir viel über Euch erzählt, aber ich hätte nie gedacht, Euch eines Tages zu begegnen.« Er deutete eine Verbeugung an und sagte dann: »Hätte ich geahnt, dass Ihr es seid, der nach Glondwarac kam…«
Yvolar lächelte. »Was hättest du dann getan?«
»Ich hätte meinen Vater Urys gebeten, mich zu Euch zu fahren. Denn ich… ich wollte Euch schon immer kennen lernen. So viele wundersame Dinge habe ich über Euch gehört, dass ich schon anfing, Euch für eine Sagengestalt zu halten.«
»Wie du siehst, bin ich wirklich«, entgegnete Yvolar sanft, »so wie auch die Sylfen wirklich waren, bevor sie sich zurückzogen auf jene fernen Gipfel, von denen sie einst kamen. Nur einer von ihnen blieb in unserer Welt, der Welt der Sterblichen.«
Erwyn wusste nicht, was ihm der Druide damit sagen wollte, wie er dessen Worte aufzufassen hatte, und etwas irritiert entgegnete er: »Wenn… wenn Ihr das sagt, wird es wohl stimmen, Meister Yvolar.«
»Ich sage es nicht nur so daher«, erklärte Yvolar. »Es ist wichtig, dass du dies weißt.«
»Und… und warum?«, fragte der Junge erstaunt.
»Sehr einfach – weil du dieser letzte Spross bist, der von Vanis’ Stamm zurückgeblieben ist, Dochandar.«
Erwyn war völlig verwirrt. »Wie nennt Ihr mich?«
»Dochandar«, wiederholte der Druide. »In der Sprache der Sylfen bedeutet dies ›Träger der Hoffnung‹ – und zur Hoffnung wirst du für uns alle werden.«
»Ich?« Ungläubig deutete der Junge auf seine schmale Brust, dann schüttelte er den Kopf, und schließlich lachte er freudlos auf. »Aber nein, Meister Yvolar! Ihr müsst Euch irren! Ich heiße Erwyn und…«
»Das ist der Name, den dein Ziehvater Urys dir gegeben hat, um dich zu schützen und vor Entdeckung zu bewahren. Er ändert aber nichts an dem, was du bist.«
»So? Und was bin ich?«
»Der letzte Spross von Danaóns Geschlecht«, antwortete Yvolar mit fester Stimme. »Der Letzte der Sylfen.«
»Ich? Ein Sylfe?« Erneut schüttelte Erwyn den Kopf. Er konnte nicht fassen, was ihm soeben eröffnet worden war.
»Ja, hast du dich denn nie gefragt, weshalb du als Kind hierher gebracht wurdest?«, fragte Yvolar. »Oder was aus deinem Vater wurde?«
»Man erzählte mir, er wäre gestorben…«
»Dein Vater, mein Junge, war ein Sylfenkrieger aus hohem Haus,
Weitere Kostenlose Bücher