Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
sollte ich deiner Ansicht nach tun?«
»Du bist Fürstregent, nicht ich. Aber wenn du eine Antwort willst, dann sage ich dir, dass du das Land auf einen Krieg vorbereiten musst. Die Grenzburgen müssen verstärkt werden, ebenso die Posten auf dem Hohen Wall. Eine Armee sollte ausgesandt werden, damit sie sich den Erlen in den Weg stellt, ehe sie die Fluren Allagáins überrennen.«
Erneut riefen die Worte des Wildfängers Angst und Schrecken auf den Gesichtern der Anwesenden hervor. Klaigon kannte den Grund, wusste er doch genau, wie sehr seine Ritter, die vollgefressen waren und träge von unzähligen Gelagen, den Krieg verabscheuten. Und er wusste auch, dass jeder gegenteilige Vorschlag, den er machte, begeistert aufgenommen werden würde.
»Dann wollen wir froh sein«, versetzte er, »dass du nicht Fürstregent von Iónador bist, Alphart Wildfänger, denn dieses Amt erfordert nicht nur Mut und Tatkraft, sondern auch Besonnenheit. Willst du, ein einfacher Jäger, die Entscheidung treffen über Frieden und Krieg? Rechtfertigt ein einzelner abgeschlagener Erlkopf« – er deutete auf das unappetitliche Mitbringsel auf dem Tisch – »einen so weit reichenden Schritt, der über das Wohl und Wehe von zahllosen tapferen Männern entscheiden kann?«
»Der Fürstregent hat recht«, pflichtete Barand bei. »Wir sollten eingehend darüber beraten.«
»Wozu?«, rief Meinrad, ein Ritter aus dem Osten Allagáins, dessen Zitadelle an den Ausläufern des Schwarzmoors stand. »Wenn die Gefahr so nah ist, wie der Jäger sagt, dann müssen wir handeln, ehe es für die Grenzburgen zu spät ist!«
»In diesem Fall«, sagte Klaigon, der von Meinrad keine andere Reaktion erwartet hatte, »brauchen wir fremden Rat, meine Freunde. Selbst ein Fürstregent kann nicht alles wissen. Und bisweilen braucht er die Hilfe von Mächten, die außerhalb irdischer Kreise stehen. Lasst nach Eolac dem Seher schicken!«
»Ruft Eolac den Seher!«
»Ein guter Gedanke!«
»Eolac wird wissen, was zu tun ist!«
Allenthalben wurde beifällig genickt und Zustimmung bekundet. Klaigon lehnte sich zufrieden auf seinem kunstvoll gearbeiteten Stuhl zurück und wartete darauf, dass der Seher eintraf, dessen geheimnisvolles Reich tief unter Iónador lag, in den Kellergewölben des Túrin Mar.
Entsprechend dauerte es eine Weile, bis der Hofbeamte die unzähligen Stufen hinunter- und wieder hinaufgestiegen war. Als er zurückkehrte, hatte er Eolac im Gefolge.
Der Seher war ein kleinwüchsiger, buckliger Mann mit tief liegenden Augen und dünnem grauem Haar, das von den Seiten seines ansonsten kahlen Schädels hing. Er trug einen Umhang aus Krähenfedern und hatte den ledernen Beutel bei sich, in dem er die Runenknochen aufbewahrte. Auf den Adel machte das eine Menge Eindruck – Klaigon hingegen wusste, dass Eolacs magische Begabung nicht größer war als die eines überreifen Bergkäses. Dass er den Seher dennoch gewähren ließ, lag daran, dass der Eolac stets klug genug gewesen war, genau das weiszusagen, was Klaigon hören wollte.
Allerdings gab es jemanden im Saal, der mit verschränkten Armen dastand und dessen Miene keinen Zweifel darüber auskommen ließ, dass er den Fähigkeiten des Sehers zutiefst misstraute: Alphart. Der Jäger, der sich mit der Natur tief verbunden fühlte und nach ihren Gesetzen lebte, verabscheute jede Form von Magie und Hellseherei.
»Großer Eolac«, rief jedoch Klaigon, »wir schulden dir Dank, dass du deine Studien unterbrochen hast, um uns mit deinem Wissen und deiner Weisheit beizustehen!«
»Iónador hat mir ein Heim und Schutz gegeben«, entgegnete der Seher und verbeugte sich. »Es ist nur recht, dass ich Euch dafür zu Diensten bin. Sagt mir, wie ich Euch helfen kann.«
»Ungeheures ist geschehen, großer Eolac! Jener Jäger dort« – der Fürstregent deutete auf Alphart – »behauptet, dass unserem Land Gefahr drohe durch finstere Kreaturen aus Dorgaskol. Sage uns, Eolac, ob wir seinen Worten Glauben schenken dürfen oder ob nur die Ängste eines wirrköpfigen Einsiedlers aus ihm sprechen. Soll einer einzelnen warnenden Stimme wegen ein ganzes Volk zittern und bangen?«
Die Miene des Sehers veränderte sich. Von einem Augenblick zum anderen nahm sie einen entrückten Ausdruck an, und Eolacs wässrige Augen schienen auf einmal in weite Ferne zu blicken. Mit einer Effekt heischenden Geste griff er in den Beutel, den er bei sich trug, und holte eine Handvoll Knochen hervor, in die Runen geschnitzt waren, die
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