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Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten

Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten

Titel: Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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den Raum. Ausgezehrt, mit blasser grauer Haut, wankte er an den Tisch, den rechten Arm von einer Schlinge gestützt. Kaldar stand auf, zog einen Stuhl unterm Tisch hervor, und Urow setzte sich.
    Er schien seine Kraft eingebüßt zu haben, so als könnten die Muskeln sein Gewicht nicht mehr stemmen.
    »Blaublütiger«, sagte er und streckte William über den Tisch seine linke Hand hin.
    Sie gaben einander die Hand. Urows Händedruck war noch immer fest, dennoch spürte William die Schwäche in seinem Griff.
    »Geht’s Ihnen gut?«, erkundigte er sich.
    »Ging schon mal besser.« Urows Augen waren blutunterlaufen und matt.
    »Was macht Ihre Frau?«
    »Ist verletzt.«
    Das hatte er sich bereits gedacht. Clara war verletzt, und Urows Welt hatte einen tiefen Riss bekommen. Er hätte gewiss eine Menge weggesteckt, aber dass er seine Frau nicht hatte beschützen können, machte ihn fertig. »Tut mir leid, das zu hören.«
    »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Urow sprach langsam, als würde ihm jedes einzelne Wort schwerfallen. »Sie haben mir schon mal geholfen, deshalb stehe ich doppelt in Ihrer Schuld.«
    »Sie schulden mir nichts. Worum geht es?«
    »Ich lasse meinen Jüngsten hier, damit er was zu tun hat. Wenn Sie also irgendwas brauchen, bitten Sie ihn darum, er wird alles für Sie tun. Je härter die Aufgabe, desto besser.«
    Seltsam. »Gut«, sagte William. »Mach ich.«
    Urow griff in seine Tasche, holte etwas heraus und schob es über den Tisch. Ein rundes Ding, etwa fünf Zentimeter groß, aus geflochtener Schnur und Menschenhaar. Aus dem Bündel ragte eine mit trockenem Blut befleckte schwarze Kralle. Sie roch nach Menschenblut und sah aus wie eine von Urows Krallen, nur dass seine alle noch dran waren.
    »Nehmen Sie das von mir, damit mein Sohn Ihren Anweisungen gehorcht.«
    Hinter William schüttelte Kaldar mit großen Augen wild den Kopf. Erians Miene wahrte sorgsam Neutralität, während er ihm über den Tisch, außerhalb von Urows Blickfeld, bedeutete, das Angebot auszuschlagen.
    »Was ist das?«, fragte William.
    »Ein Ding. Ein Zeichen.« Urows heisere Stimme zitterte schwach, und William erkannte, dass der Mann noch nie so nah dran gewesen war, um etwas zu bitten. Sofort verspürte er den Drang, aufzustehen und zu gehen.
    »Ich habe sonst keinen, der es annehmen könnte«, sagte Urow. »Die Familie geht nicht, und die anderen im Moor, na ja, es gibt sonst niemanden, dem ich meinen Sohn anvertrauen würde. Die würden ihn ausnutzen.« Schmerz verschleierte seinen Blick. Seine Stimme verfiel zu einem rauen, gebrochenen Flüstern. »Tun Sie das für mich, William. Ich will meinen Sohn nicht töten.«
    William saß vollkommen reglos. In seinem Kopf rasteten Puzzleteile ein. Er hatte schon mal über diese Sitte gelesen, in einem Buch über die Stämme auf dem Südkontinent des Weird. Wenn ein Kind sich einer Todsünde schuldig gemacht hatte, konnte die Familie dieses Kind einem anderen Vormund übergeben, damit es nicht sterben musste. Das Kind würde dem Vormund dann bis zur Volljährigkeit dienen.
    Also hatte Urows Jüngster etwas verbrochen, das mit dem Tode bestraft werden konnte, sodass Urow ihn nicht länger bei sich dulden konnte. Das Kind durfte nur am Leben bleiben, wenn es künftig zu jemand anderem gehörte.
    William rührte sich immer noch nicht. Als seine Mutter ihn nach seiner Geburt nicht gewollt hatte, hätte sie ihn auch einfach in der Gosse ablegen und ihrer Wege ziehen können. In Louisiana wäre er sogar nach der Geburt erdrosselt worden. Er überlebte nur, weil er in Adrianglia zur Welt gekommen war und weil seine Mutter sich wenigstens so sehr um ihn gekümmert hatte, dass sie ihn der Regierung übergab, anstatt ihn einfach mit dem übrigen Abfall auf den Kehrichthaufen zu werfen. Ungeachtet der möglichen Folgen hatte ihn die Regierung aufgenommen, gefüttert, behütet, sodass er es nie bereute, in die Welt geworfen worden zu sein, obwohl sein Leben nie einfach gewesen war.
    Es spielte keine Rolle, dass dieser Junge kein Gestaltwandler war und sie hier nicht in Adrianglia waren oder dass er Urow gar nicht kannte und nicht wusste, was er mit seinem Sohn anfangen sollte.
    Jetzt war er an der Reihe. Nur ein Narr würde dem Schicksal etwas schuldig bleiben, und er war kein Narr.
    William nahm das Amulett.
    Urow atmete langsam durch die Nase aus. Kaldar tat so, als wolle er seinen Schädel gegen den Küchenschrank schlagen. Erian beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die

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