Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Gabe und die Macht, die Alte Magie würde sie nicht um den Verstand bringen.
»Wo ist meine Mutter?«
Lagars Mund klappte auf. Eine Wolke aus Pollen brach wie eine wirbelnde, glitzernde Kaskade aus Goldstaub aus seiner Kehle.
»Antworte mir.«
Hinter ihr gab Ignata ein leises Maunzen von sich.
Ein Schimmer durchlief die Pollen, dann entstand in der Wolke ein Bild: eine weitläufige Wasserfläche, aus der sich ein einsamer grauer Fels wie der Rücken eines Ungeheuers erhob, dahinter ahnte man ein großes Haus … Bluestone Rock. Nur eine Tagesreise von hier!
Die Zweige griffen nach ihr. Sie schlug mit dem Hexenmantel nach ihnen, und sie fielen zurück.
»Wo ist mein Vater?«
Die Pollen veränderten ihre Lage, aber kein neues Bild rührte die Wolke auf. Lagar wusste es nicht.
»Was will Spider von unserer Familie?«
Die Zweige gerieten in Aufruhr, wanden sich immer enger umeinander. Lagars Augen loderten dunkelgrün wie Sumpffeuersterne. Im Innern der Glut brannte etwas Entsetzliches, Mächtiges, das sich an die Oberfläche vorkämpfte.
»Gehorche!«, schnappte Cerise.
Die Pollen schimmerten aufs Neue und bildeten ein zerfleddertes Notizbuch, das aussah wie eines von Großvaters Tagebüchern.
Lagars Leiche brach nun einer sich öffnenden Blume gleich auf und entließ dunkelblaue Tentakel, die durch das Bild in den Pollen auf sie zuschossen.
Sie hob ihre Magie wie einen Schild, und die Tentakel prallten mit Geistergeheul dagegen. Der Anprall riss sie beinahe von den Beinen.
»Lauft!«
Hinter ihr packte Ignata Catherine und zerrte sie hoch. Cerise trat den Rückzug an. Sie hatte Nasenbluten, und ihr Schädel brummte.
»Weg!«, rief jemand. Sie stolperte aus dem Kreis. Die Tentakel wimmelten hinter ihr her, erreichten die Asche, schrumpften und verdorrten.
»Verbrennen!« Richard trat in den Kreis und übergoss die Blätter mit Benzin aus einem Eimer. Irgendwer riss ein Streichholz an, und das Grünzeug ging in Flammen auf.
Lagar heulte vor Schmerz, kreischte, als würde er bei lebendigem Leib verbrannt.
Catherine schaukelte schluchzend vor und zurück.
Cerise rollte sich zusammen und versuchte, Lagars Schreie auszublenden. Jetzt wussten sie, wo sie suchen mussten.
Kaitlin klappte den Deckel einer Perlmuttschachtel auf. Ihre Finger fuhren durch die Schätze darin: Eine Locke von Lagars Blondhaar, abgeschnitten, als er noch ein Kind war. Die Spitze von Pevas erstem abgeschossenem Pfeil. Einer von Arigs Zweigen … Sie wusste noch, wie Peva ihm gesagt hatte, seine Finger seien zu schwach, um einen Bogen zu spannen, und wie Arig danach ständig mit einem Zweig in den Händen herumgelaufen war, von dem er kleine Stücke abbrach.
Sie verzog den Mund. Was hatte sie falsch gemacht? Wie hatte sie Schwächlinge großziehen können, die sie nun im Stich ließen?
Sie blickte in den Spiegel an der Wand und berührte die Runzeln um ihre Augen. Alt … Sie war alt geworden. Sie hatte sich für ihre Kinder aufgeopfert, wie es von einer Mutter erwartet wurde. Aber ihre Kinder ließen sie im Stich.
Kaitlin funkelte ihr Spiegelbild an. Ihre Haut mochte schlaff, ihr Haar grau werden, aber sie besaß einen eisernen Willen. Das lag an ihren Augen, wie ihr Vater immer gesagt hatte. »Du hast Eisen in den Augen, Kaitlin. Du bist stark. Das Leben wird dir zusetzen, aber du wirst es überstehen, meine Tochter. Eisen gibt nicht nach.«
Sie straffte die Schultern. Sie konnte auf Zauberei zurückgreifen, dunkle, böse, verbotene Dinge, die sie gegen das Rattenpack entfesseln konnte. Dann würde ihnen auch ihre alte Hexenmagie nicht mehr helfen. Oh, natürlich würde dann die Garde auf den Plan treten, und die Miliz würde auflaufen und über die Verwendung gesetzwidriger Magie lamentieren. Sollten sie doch kommen. Sie würde sie schon aufhalten.
Vielleicht konnte sie noch mal ganz von vorne anfangen. Zwar hatte die Zeit sie ihrer Fruchtbarkeit beraubt, aber Kinder gab es im Moor wie Sand am Meer. Sie konnte irgendeinem Weib Geld für ein gutes, kräftiges Kind geben und noch mal einen Sohn haben. Und dieses Mal würde sie keinen Fehler machen.
Sie wandte sich dem Sofa zu, wo sie ihren Schal gelassen hatte, und zog irritiert die Stirn kraus, als er nicht mehr da war. Sie suchte kurz und sah ihn dann über dem Verandageländer hängen, wo sie heute Morgen gestanden und Arig verabschiedet hatte.
Seltsam.
Sie streckte ihre Fühler nach fremder Magie aus, spürte aber nichts. Der von ihrem Haus ausgehende Schutzschild aus
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