Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
ganz kapiert. Er stellte ihm nach, weil er sich sicher war, dass Spider in seinem Innern ein Tier versteckte. Als der Junge sieben war, überschüttete ihn Alain mit kochendem Wasser, um ›die Bestie auszutreiben‹. Kaum war Spider achtzehn, ließ er seinen Großvater entmündigen und übernahm die Herrschaft über den Besitz. Niemand weiß genau, was mit Alain geschah, jedenfalls hat ihn seit Jahren keiner mehr gesehen.«
Cerise verzog das Gesicht. »Das ist einfach nur schrecklich.«
William zuckte die Achseln. »Die Welt da draußen ist hart. Spider hasst meine Art, weil wir die Ursache seines Elends sind. Ich muss ihn töten. Mittlerweile nicht nur aus Rache – er ist eine Bedrohung für sämtliche Gestaltwandler. Zum Teufel, eine Bedrohung für das ganze verdammte Land. Aber er versteht das und nimmt es nicht persönlich.«
Cerise runzelte neben ihm die Stirn. »Woher willst du das wissen?«
»Wir haben darüber geredet, bevor wir das letzte Mal aufeinander losgingen. Für ihn ist das Leben einfach so«, erklärte William. »Er ist ein eiskalter Hund. Deshalb versteht er meine Gründe und würde an meiner Stelle genauso handeln – und seinem Land dienen, so gut er kann. Er ist nicht verrückt, Cerise. Sondern überaus vernünftig. Das macht ihn umso gefährlicher. Was, zur Hölle, steht in diesem Journal? Wieso ist er so sehr daran interessiert?«
Cerise zog eine Grimasse und rieb sich das Gesicht. »Ich hab ja versucht, mir einen Reim darauf zu machen, aber ich habe keine Ahnung. Dieses Journal ist der Schlüssel zu allem. Ich wünschte, Sene wäre abgebrannt. Ich wünschte, meine Eltern hätten das Anwesen dem Erdboden gleichgemacht –«
William legte ihr die Hand auf den Mund.
»Was ist?«, flüsterte sie.
»Die Vögel singen nicht mehr.«
Vur stieg von einem Fuß auf den anderen. Wir lange brauchten die denn für ihren Fick? Oder umgarnte der durchgeknallte Wolf die Frau da drin mit Wein und Dichtkunst? Vur konzentrierte sich auf die wippenden Eichenzweige vor der Scheune und hob sich in die Lüfte. Seine Hautflügel klappten auf, und Vur flog, nutzte die Luftströmungen und landete in der Eiche.
William glitt zur Seite und stand lautlos auf. Cerise kam auf die Beine, steckte eine Hand ins Heu und zog ihr Schwert heraus.
William bleckte die Zähne. Das ist mein Mädchen !
Sie huschte zur Wand. »Oh, Baby! Ja, ja, so ist’s gut! Ja-ha!«
Das Dach knarrte unter dem Gewicht eines Körpers. William tappte über den Boden und folgte dem Knarren.
»Fester, Baby! Fester!«
Dann brach das Dach ein, und mit mörderisch gespreizten Krallen fiel ein gefiederter Leib zu Boden. William sprang dem Angreifer auf den Rücken und schloss den Unterarm um den glitschigen Hals. Die Kreatur würgte, gurgelte, und Cerise stieß vor, unfassbar schnell, und trat wieder zurück.
Die Kreatur ging in die Knie. William durchforstete sein Gedächtnis nach gefiederten Agenten der Hand. Vur. »Die Krallen sind giftig!«
Cerises Gesicht wurde knallhart. Sie sah aus wie eine in ihrem Revier bedrohte Wölfin. »Lass ihn los. Bitte.«
William lockerte den Griff. Vur krachte keuchend auf den Boden. Blut tränkte sein Gefieder.
»Tut weh, nicht?« Cerise trat einen Schritt näher.
»Jaaa«, gurgelte der Agent der Hand.
»Du wirst langsam sterben, und bis es so weit ist, wird es noch mehr wehtun. Die Hand hat meinen Vater. Sag mir, wo er ist, und ich mache auf der Stelle Schluss mit dir.«
Vurs blaue Augen blinzelten.
»Lass dir ruhig Zeit«, sagte William.
Er ging um den Körper herum und setzte sich ins Heu. Cerise ließ sich neben ihm nieder. Die Sekunden verrannen, zähflüssig wie Zuckersirup. Vurs Stöhnen wich spitzen Schreien. Sie warteten.
Eine Minute verrann.
Noch eine.
»Kasis!«, schrie er dann. »Er ist in Kasis.«
Cerise erhob sich mit grimmigem Gesicht. Ihr Blitz gleißte, das Schwert stach zu, und Vurs zitternder Körper lag endlich still.
25
John sah die Tür zufallen, als Spider aus den Tiefen des Laboratoriums auf den sonnendurchfluteten Korridor hinaustrat. Der schlanke Mann blinzelte gegen das Licht und hob zum Schutz seiner Augen die Hand. In seiner rechten Armbeuge lag ein dicker Ledereinband, der Johns Aufmerksamkeit erregte, sodass er den Blick nicht davon abwenden konnte.
»Der Geruch ist wirklich abscheulich«, sagte Spider.
»Tut mir leid. Aber das lässt sich nicht ändern.«
Spider nickte. »Gehen wir ein Stück.«
Nebeneinander schlenderten sie durch den Korridor, die
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