Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
mehr als zwölf, fünfzehn Stunden dürften kaum drin sein. Wenn du dich also noch ein wenig mit der Wunschwelt beschäftigen willst, fängst du am besten gleich damit an.«
Georgie spürte, wie Rose’ Arme sich um ihn schlossen. Sie drückte ihn an sich. »Es ist fast Mitternacht. Du kommst jetzt besser rein.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin okay«, sagte er und starrte in die Kuppel. »Nur noch ein bisschen.«
»Declan und ich haben beschlossen, heute Nacht auf der Veranda zu schlafen, damit wir dich im Auge behalten können. Wenn irgendetwas Schlimmes passiert, kommst du damit zu uns, ja?«
Georgie sah sich um. Declan und Großmama breiteten auf der Veranda Wolldecken aus.
»Ja«, nickte er und streckte die Hand nach der Kontrolltafel aus. Vielleicht würde ja doch noch alles gut, wenn er noch einmal ganz von vorne anfing. Es musste einfach alles gut werden. Irgendwie musste doch alles gut ausgehen.
Rose erwachte, als der erste Anschein des Sonnenaufgangs den Himmel rötete. Georgie saß auf den Stufen und hielt seine Knie umschlungen. Sie rührte sich, worauf Declan am anderen Ende der Veranda die Augen aufschlug. Er sah sie über den Rücken eines kleinen Luchses an, der sich neben ihm zusammengerollt hatte. Jack hatte offenbar in der Nacht sein Armband abgestreift, vermutlich, weil auch er auf seinen Bruder aufpassen wollte.
Rose wickelte sich aus ihren Decken und setzte sich neben Georgie.
»Wie lange warst du auf?«
»Die ganze Zeit.«
Sie betrachtete das Planschbecken. Unter der Kuppel schimmerte eine wunderschöne Stadt. Declan hatte ihr das Konzept gestern Abend erklärt, während sie ihm die Haare geschnitten hatte, damit er nicht mehr so schief aussah. Ungefähr eine Stunde lang beobachteten sie Georgie durchs Fenster, während Großmama herumdruckste, angewidert die Hände rang und schließlich versuchte, Rose’ eigenem gemeucheltem Haarschopf einen einigermaßen anständigen Schnitt zu verpassen. In der Stunde hatte Georgie zweimal geweint, und Rose wäre furchtbar gerne hinausgelaufen, um ihn zu trösten. Aber ihr Mitgefühl hätte sicher mehr Schaden als Nutzen gebracht. Diese tief greifende Erfahrung musste er alleine machen.
Und nun, wie er so neben ihr saß, wirkte er älter. Ernst, fast grimmig.
»Ich habe es jedes Mal falsch gemacht.« Er wollte sie nicht anschauen.
»Aber die Stadt sieht jetzt sehr schön aus«, sagte sie.
»Weil ich sie habe sterben lassen. Ich habe den Schalter auf fünfzig Jahre eingestellt. Ich musste. Anders ging es nicht.«
Sie drückte ihn und küsste ihn aufs Haar.
»Das Leben ist so kostbar, weil es kurz ist«, sagte sie. »Da kann man noch so unverwüstlich sein, am Ende zerbricht man doch. Es geht im Leben nicht darum, ob man stirbt oder ob man nicht stirbt. Es geht darum, gut zu leben, George, man muss so leben, dass man stolz und glücklich sein kann.«
Georgie zog die Schultern hoch.
»Ich bin jetzt so weit«, sagte er dann. »Ich möchte bloß noch mal alle sehen. Nur noch einmal.«
Hinter ihnen kam Declan hoch und hob sein Schwert auf.
Dann ließen sie Großvater aus seinem Schuppen und gingen in den Wald. Jack trottete vorneweg, ein geschmeidiger, katzenhafter Schatten, danach sie und Georgie mit angespannter, konzentrierter Miene, dann Declan und schließlich Großpapa, der knurrte und vor sich hin brummte.
Sie gelangten zu der großen Lichtung, auf der im vergangenen Jahr Donovans Wohnwagen ausgebrannt war und beinahe den ganzen Wald in Brand gesetzt hätte.
Georgie seufzte und breitete die Arme aus.
Eine Minute verging. Dann noch eine. Auf Georgies Stirn standen Schweißperlen.
Dann raschelte es im Unterholz. Die Zweige bogen sich und entließen einen kleinen Waschbären. Ein Vogel stieß herab und landete rechter Hand, ein Wurf Kätzchen flitzte auf die Lichtung, gefolgt von einem alten, schwarzen Labrador auf drei Beinen. Dann wuselten mehrere Eichhörnchen heran … dann ein Hündchen mit seltsam geformtem Kopf … alle kamen, Dutzende verstümmelter, gebrochener Geschöpfe, die Georgies Wille wiederhergestellt hatte. Sie eilten zu ihrem Herrn und ließen sich im Halbkreis um ihn nieder.
Rose schnappte nach Luft. Es waren so viele. Oh, lieber Gott, so wahnsinnig viele. Es ist ein Wunder, dass er noch am Leben ist .
Georgie ging nun auf Großvater zu, der im Gras saß, und nahm ihn in den Arm.
»Du musst jetzt gehen«, sagte er.
Das Geschöpf, das früher mal Cletus gewesen war, sah ihn aus wässrigen Augen an. »Werde ich
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