Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
ist noch kein Gestaltwandler begegnet, der so angepasst war wie Jack«, sagte Declan. »Er geht auf eine ganz normale Schule. Er spielt. Er ist klug, man kann vernünftig mit ihm reden, und er fühlt mit anderen Menschen. Er hat mir gesagt, dass er George beschützt. Ich glaube kaum, dass Sie begreifen, wie bemerkenswert das ist.«
Sie schaute ihn an. »Er ist nur ein kleiner Junge, Declan. Sie reden über ihn, als wäre er nicht mal menschlich.«
Declan blickte gequält. »Ich habe einen Freund«, sagte er dann. »Wir waren zusammen im Krieg.«
Dann war er also nicht bloß ein Blaublütiger, sondern auch Soldat. Ohne Zweifel im Offiziersrang. Kein Wunder, dass er meinte, Leute schikanieren wäre die einzig denkbare Umgangsform. »Wie lange waren Sie beim Militär?«
»Zehn Jahre«, antwortete Declan.
»Das ist eine lange Zeit«, sagte sie.
»Ich fand, das passte besser zu mir, als ein Peer zu sein«, meinte er.
»Wieso?«, wollte sie wissen.
»So war ich ausschließlich für mich selbst verantwortlich«, gab er zurück. »Mehr nicht.«
Also doch kein Offizier. »Waren Sie glücklich?«
»Zufrieden«, entgegnete Declan. »Ich war gut im Töten und wurde dafür belobigt und ausgezeichnet. Damals glaubte ich, meinen Platz im Leben gefunden zu haben.«
»Und ich dachte, Sie bestehen bloß aus Eiern, Etikette und Weiber aufreißen«, piesackte sie ihn.
Sie fing sich einen todernsten Blick ein. »Sie haben seltsame Vorstellungen vom Leben eines Peers. Das meiste ist Arbeit, jede Menge Arbeit und Verantwortung. Aber an dem Punkt meines Lebens war ich dazu nicht bereit. Ich bin es noch immer nicht, allerdings habe ich jetzt keine Wahl mehr.«
Seine Stimme klang bitter und hohl. Rose schaute weg, sie wusste nicht recht, wo sie ihre Hände lassen sollte. »Erzählen Sie mir von Ihrem Freund.«
»Er ist Gestaltwandler«, sagte Declan. »Ein Raubtier wie Jack. In unserer Gesellschaft stehen Gestaltwandlern nicht allzu viele Wege offen, am allerwenigsten dann, wenn sie nicht in eine vermögende Familie hineingeboren wurden. Und mein Freund kam mittellos zur Welt. Seine Mutter setzte ihn nach der Geburt aus, und er kam in die Zitadelle, Adrianglias beste Militärakademie. Formwandler aus wohlhabenden Familien erhalten eigentlich eine besondere Ausbildung, damit sie später in die Gesellschaft zurückkehren können.«
»Ihr Freund aber nicht?«, vermutete sie.
Declan schüttelte den Kopf. »Er stand unter Reichsvormundschaft, und das Reich hatte nicht vor, ihn jemals wieder unter anderen Menschen leben zu lassen. Stattdessen wurde er zu einer Tötungsmaschine ausgebildet. Ihm wurden sämtliche Gefühle abtrainiert, er stand ständig unter Aufsicht und wurde bei Versagen streng bestraft. Er hat mir erzählt, dass er in einem kahlen Raum aufwuchs, drei Meter fünfzig mal drei Meter, den er auch noch mit einem anderen Jungen teilen musste. Abgesehen von seinen Kleidern, einer Zahnbürste, einem Kamm und einem Handtuch war ihm dort keinerlei persönlicher Besitz gestattet.«
»Schrecklich«, sagte sie. »Man kann Kinder doch nicht so wegsperren. Kein Kind. Jack muss sich frei im Wald bewegen können. Wenn er nicht spielen könnte, würde er …«
»… verrückt werden«, beendete Declan den Satz. »Oder lernen zu überleben und eine Menge Hass mit sich herumtragen.«
»Aber wie konnte Ihr Freund danach Soldat werden? Er hätte doch irgendwie …« Sie suchte nach dem passenden Wort, konnte es aber nicht finden. »… seltsam werden müssen.«
»Er passte sich an«, erklärte Declan. »Wir gehörten zur Roten Legion. Wir taten, was notwendig war und worüber niemand gerne spricht.«
»Geheimoperationen?«, fragte sie. Sieh mal einer an, hatte Latoya doch recht gehabt – er war also tatsächlich einer dieser Ungeziefer fressenden Survivaltypen, die Terroristen mit Tannenzapfen und Kaugummi außer Gefecht setzten.
»Geheim trifft es ziemlich genau. Wir gingen dahin, wo sonst niemand hingehen wollte, und wir waren Meister darin, alles und jeden umzubringen, der uns über den Weg lief. Für uns gab es weder Abkommen noch Regeln. In Einheiten dieser Art ist nicht sehr viel sicher, man verlässt sich auf sich selbst oder, wenn man Glück hat, auf den Mann oder die Frau neben einem. Ich habe auf meinen Freund aufgepasst und er auf mich. Er hat mir ein paarmal das Leben gerettet, und ich habe es ihm entsprechend vergolten. Aber keiner von uns dachte darüber nach, wer wem wie viel schuldete. Falls nötig, wäre ich für
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