Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Nachmittagslicht nahm Declans Gesicht einen neuen Farbton an. Seine Augen starrten in die Ferne. Er schien in Gedanken mit sich zu ringen. Dann entspannten sich die strengen Züge seines Mundes. Sein Blick verlor jede Aggressivität. So wie er nun dasaß, wirkte er beinahe umgänglich. Und schon machte sich der Wunsch, ihn anzufassen, in ihr breit. Das war nur natürlich, sagte sie sich. Er sah richtig klasse aus, und ihr Leben war ja nicht sonderlich aufregend. Aber die unvernünftige Sehnsucht, ihn zu küssen, bedeutete noch lange nicht, dass sie das auch in Wirklichkeit durchziehen musste.
Das letzte Mal, als er sein Blaublütigengehabe abgelegt hatte, war er eigentlich ganz vernünftig gewesen. Vielleicht würde er ja, wenn sie ihm nur ein bisschen mehr von sich und den Kindern erzählte, ein Einsehen haben und sie in Ruhe lassen.
»Sie scheinen Jack zu mögen«, begann sie vorsichtig, um ihm auf den Zahn zu fühlen.
»Er hat alles gegeben«, sagte er. »Aber sagen Sie mir, warum er seine Gestalt nicht gewechselt hat, als die Bluthunde auf der Wiese hinter ihm her waren. Sein Überlebensinstinkt hätte doch genügen müssen, damit er sich im Angesicht der Gefahr in einen Luchs verwandelt.«
Rose blickte in ihre Tasse. »Vielleicht ist das im Weird anders, aber wenn Gestaltwandler im Edge sich verwandeln, kommt das jedes Mal einem Anfall gleich. Sie klappen zusammen und krümmen sich am Boden. Es ist fürchterlich und dauert manchmal minutenlang. Wenn er die Gestalt gewandelt hätte, wären die Bestien über ihn hergefallen, er hätte sich nicht komplett verwandeln können. Wir haben lange gebraucht, bis wir ihm klargemacht hatten, dass er nicht jedes Mal, wenn er sich fürchtet, zur Katze werden muss. Ist Ihnen sein Armband aufgefallen?«
»Ja.«
»Ich habe ihm beigebracht, dass er sich nicht verwandeln soll, solange er das Armband trägt. Das ist nicht gerade Magie oder so was, aber es hält ihn in der Spur.«
»Das war sicher ein hartes Stück Arbeit.« Seine Stimme verriet Respekt.
»Ja, das war’s.«
Declan zögerte und dachte nach. Offenbar nagte irgendetwas an ihm.
»Im Weird werden Formwandler von den anderen Kindern getrennt und auf besondere Schulen geschickt, wo sie bleiben, bis sie erwachsen sind«, sagte er endlich.
Sie sah ihn an. »Sie geben die Kinder weg?«
Declan verzog das Gesicht. »Nein, ganz so ist es nicht. Aber es gibt spezialisierte Ausbilder, die ihre Erziehung beaufsichtigen …« Er verstummte. »Ja«, sagte er dann resigniert. »Wir geben die Formwandlerkinder weg. Weil es nach allgemeiner Überzeugung so besser für sie ist.«
»Ich kann mir vorstellen, dass manche das denken.«
Er wölbte langsam die dichten Augenbrauen. »Ich hätte nicht erwartet, dass Sie mir beipflichten.«
»Manche Gestaltwandler werden als Menschen geboren. Jack kam als Kätzchen zur Welt. Wir wussten schon, als er noch im Mutterleib war, dass etwas nicht stimmte. Meine Mutter spürte die Krallen, und als Großmama ihre Zauberkräfte einsetzte, wiesen alle Tests auf die Wälder hin. Wir konnten mit meiner Mutter nicht ins Krankenhaus, weil meine Eltern dachten, dass Jack ohne Magie nicht überleben würde; also musste mein Vater die Hebamme aus dem Broken mit einer Riesensumme bestechen, damit der Junge richtige Papiere bekam. Und als Jack dann da war, hat Mutter ihn nicht gestillt, sondern ihre Milch abgepumpt, damit wir ihn mit dem Fläschchen aufziehen konnten. Es dauerte, bis er sich in ein Menschenkind verwandelt hatte, anschließend blieb er noch fast einen Monat lang blind. Als Baby sah er ziemlich komisch aus, ich hab ihn sogar für missgebildet gehalten.«
Sie trank den letzten Schluck Tee. »Selbst heute noch ist es … ist es nicht leicht mit Jack. Es gibt Momente, da versteht er nicht mehr, was man ihm sagt. Er hört die Wörter und weiß, was sie bedeuten, aber sie dringen nicht zu ihm durch. Er kapiert auch nicht immer, warum die Menschen tun, was sie tun, und er kämpft wie ein Berserker. Andere Kinder haben Angst vor ihm. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt und die Schule ist dran, gerate ich in Panik, weil ich denke, er hat jemandem wehgetan. Deshalb verstehe ich, dass es manchen Leuten womöglich zu viel wird. Normale Menschenkinder sind ja so schon anstrengend genug. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich würde Jack nie weggeben. Niemals. Da müsste man ihn mir schon aus den toten Händen reißen. Trotzdem frage ich mich immer, was ist, wenn ich alles falsch mache.«
»Mir
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