Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Dead Horse Oak.
Heute schien die Eiche noch windschiefer zu stehen als gewöhnlich. Etwas Großes, Längliches hing an einem dicken Ast auf der rechten Seite und schaukelte leicht hin und her. Rose zog die Stirn kraus. Und jetzt?
Das Etwas stöhnte.
Sie blinzelte und erkannte, worum es sich handelte: Emerson, der in weiße Plastikfolie gewickelt kopfüber an den Sicherheitsgurten seines Wagens baumelte.
Er stöhnte wieder, diesmal schwächer. Rose entsicherte ihre Waffe, holte tief Luft und näherte sich ihm langsam, wobei sie die Umgebung ständig im Auge behielt. Sie kniff die Augen zusammen, um das erste Anzeichen von Gefahr sofort zu erkennen. Ihre Ohren lauschten auf das leiseste Geräusch. Doch sie hörte nichts als den Wind, die Grillen und das leise Murmeln des Waldes aus der Ferne.
Ein Schritt. Noch einer. Rose fröstelte. Sie war fast da.
Emersons Gesicht hatte die Farbe reifer Pflaumen. Seine leeren Augen starrten sie an, ohne sie zu sehen.
»Alles klar«, teilte sie ihm leise mit. »Alles klar. Ich habe Sie.«
Bestimmt strömte ihm das Blut in den Kopf. Sie musste ihn da herunterholen.
Emersons Lippen bewegten sich. »Wo-wo …«
»Ja?«
»Wo-wo … Wolf.«
»Wolf?«
»Wolf!« Seine Stimme klang plötzlich ganz klar. »Wolf! Wolf! Wolf!«
Ein Wolf? Ein Wolf hätte ihn nicht in Plastikfolie gewickelt und an diesen Baum gehängt. »Schon gut, schon gut«, brummte sie. »Beruhigen Sie sich. Ich hole Sie runter.«
Sie griff nach den Sicherheitsgurten.
Da tauchte ein schwarzer, zottiger Wolf hinter dem Baumstamm auf. Ein Riesentier, mächtig wie ein Kalb, das sie aus einem Paar großer, goldener Augen anstarrte; ein kalter, bösartiger und kluger Blick. Zu klug. Das war kein normaler Wolf, sondern ein Gestaltwandler.
Rose stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Sie verharrte reglos. In East Laporte gab es nur einen Gestaltwandler, und das war ihr Bruder Jack.
Jetzt klaffte die schwarze Schnauze unter den Augen und offenbarte riesige elfenbeinerne Fangzähne.
Rose umfasste Emerson, zog ihn an sich und entließ einen Blitz. Der weiße Lichtbogen von Atamans Verteidigung wirbelte um sie und durchtrennte den Sicherheitsgurt. Emerson fiel. Zweihundert Pfund Lebendgewicht trafen sie und rissen sie zu Boden.
Der Wolf knurrte. Ein furchtbarer Laut, Groll und Blutgier gaben ein tödliches Versprechen.
»Du kriegst ihn nicht«, sagte Rose.
Der Wolf schnappte zu. Seine Zähne fetzten haarbreit vor ihrem Blitz durch die Luft.
Panik durchfuhr sie. Ihr weißer Lichtbogen zerfiel in drei Teile, jeder Arm bewegte sich so schnell, dass alle drei sich im nächsten Augenblick zu einem stabilen Schutzring um sie und Emerson vereinten.
Der Wolf hielt irritiert inne.
Jetzt saßen sie in der Falle. Sie konnte die drei Lichtbögen nicht endlos aufrechterhalten. Wenn sie ihn mit ihrem Blitz direkt angehen wollte, musste sie vorher ihre Deckung preisgeben. Die goldenen Augen verrieten ihr, dass der Wolf sie auf der Stelle in Stücke reißen würde, wenn sie ihm nur den Bruchteil einer Sekunde gönnte.
Rose verlangsamte die Lichtbögen, bis sie sich wieder einzeln unterschieden.
Der Wolf schnaubte, als wolle er sie auslachen, belustigt über ihre jämmerlichen Versuche, ihn von seiner Beute fernzuhalten.
Sie verlangsamte die Lichtbögen nun so weit, dass sie für Augenblicke ungeschützt dastand, wenn ein Lichtbogen an ihr vorbeizuckte. Und als der nächste Lichtbogen nach rechts wegsauste, riss Rose ihre Waffe hoch und schoss. Die Waffe spuckte Kugeln und Donner.
Der Wolf sprang nach links, weg von dem Eichenstamm, und rannte in den Wald. Rose schluckte. Emerson wimmerte zu ihren Füßen wie ein Kleinkind.
»Er ist weg«, teilte sie ihm mit zitternder Stimme mit. »Er ist endgültig weg.«
Sie konnte Emerson unmöglich den Hügel hinuntertragen. Sie konnte ihn nicht mal von hier wegschleifen. Ihre Finger zitterten. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche, brauchte jedoch drei Anläufe, bis sie endlich die richtige Nummer eingetippt hatte.
»Eric Kaplan. Kaplan Versicherungen. Was kann ich für Sie tun?«, meldete sich die Stimme am anderen Ende.
»Hier ist Rose. Ich bin bei Dead Horse Oak. Ich habe Ihren Onkel hier, und Sie müssen kommen und ihn abholen.«
»Schnell, Kind!« Mémères Stimme trieb Georgie die Leiter hoch. Er wand sich die Sprossen zum Dachboden hinauf, glitt rasch zur Seite und streckte ihr seine Hand hin. Sie kletterte nach oben, brachte eines von Großvaters Gewehren mit, dann zogen
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