Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
Audrey stand auf und winkte.
Paul glotzte ihr in den Ausschnitt, dann drängte er die Jungs weiter.
»Da seid ihr ja.« Audrey machte ein großes Getue, umarmte zuerst George, dann Jack, wobei sie ihnen jeweils ins Ohr zischte: »Haltet euch bereit abzuhauen.«
Die Jungs setzten sich neben Kaldar. Paul wandte sich ab.
»Bleiben Sie nicht zur Predigt?«, erkundigte sich Audrey.
»Nein. Ich muss noch einiges erledigen.« Paul lief den Mittelgang hinauf. Andere Mitarbeiter des Camps verschwanden ebenfalls. Ein paar Augenblicke noch, dann schlossen sich die Kirchentüren hinter ihnen. Audrey schwand der Mut, als der Lichtspalt in der Mitte der Doppeltür immer kleiner wurde.
Dann schlugen die Türen zu. Sie waren eingeschlossen.
Von den Wurzeln einer großen Fichte aus betrachtete Karmash die Bewaffneten, die das Kirchenportal schlossen. Das Camp lag an einer Hügelflanke, Karmash konnte von seinem Beobachtungsposten aus das gesamte Gelände überblicken. Er hatte sowohl Kaldar Mar als auch die rothaarige Frau die Kirche betreten sehen und in dem Augenblick, als er Kaldars Gesicht erkannt hatte, einen modifizierten Botenvogel losgeschickt.
Der Priester unterhielt einen kleinen, aber soliden Lagerbetrieb. Karmash zählte zwölf Wachposten. Keine üble Streitmacht. Zwei betraten die Kirche, zwei blieben vor der Tür stehen, der Rest verschwand im Gänsemarsch in einem Holzhaus weit links. Keiner stellte ein Problem dar.
Cotier krabbelte an der Fichte hinab, huschte wie eine Eidechse kopfüber durchs Geäst. Der muskulöse, schnelle Kundschafter war selbst nach den Maßstäben der Hand ein seltsames Geschöpf: Auf seiner Haut wechselten braune und grüne Pigmente, und als er am Stamm innehielt, ahmte sein Gesicht dessen Farben und das grobe braune Muster nach. Seine Stimme war ein leises Zischeln. »Was tun sie?«
»Anscheinend werden sie eingeschlossen.«
»Das ist nicht gut.«
»Danke, dass du mir das Offensichtliche mitteilst.« Er hatte keine Ahnung, was die Edger vorhatten, aber was auch immer es war, erforderte bewaffnete und verriegelte Türen. Nach Karmashs Erfahrung bedeutete das für die Eingeschlossenen nie eine gute Mischung.
»Sollen wir etwas unternehmen?«
Helena ließ ihren Leuten einfach zu viel durchgehen. Agenten unter seinem Befehl stellten seine Entscheidungen nie auf diese Weise infrage. Karmash bedachte seine Möglichkeiten. Die eigentliche Frage war, was Helena mehr nerven würde: dass jemand gegen ihre Befehle verstieß oder dass sie Kaldar Mar an irgendeinen Edger-Wahnsinn verlor.
Doch niemand hielt sich damit auf, dem Gewinner Fragen zu stellen. Wenn er Kaldar Mar auslieferte, wäre alles vergeben und vergessen. Wahrscheinlich würde er sogar dafür belobigt werden, dass er die Initiative ergriffen hatte.
Die beiden Wachen bezogen Stellung vor der Tür und fuchtelten mit ihren Gewehren herum.
Wenn er das hier vermasselte, wäre er aus dem Rennen.
Karmash knirschte mit den Zähnen. Er konnte unmöglich riskieren, dass Kaldar ihm durch die Lappen ging. Es wäre unverzeihlich, und Helena war nicht gerade für Nachgiebigkeit bekannt.
Er schüttelte seinen Tarnmantel ab. Mura trat hinter einem Baumstumpf hervor. Ihre orangefarbene Haut hob sich trotz der Tarnfarbe hell von der Vegetation ab. Karmash zuckte fast zusammen. Sicher, als Mörderin war Mura eigentlich nicht für den Einsatz im Wald vorgesehen, aber ihre Haut leuchtete beinahe. Sie hätte die Lücke in Spiders Mannschaft niemals ersetzen können. Helena legte offensichtlich andere Maßstäbe an.
Links tauchte Soma aus dem Unterholz auf und ging in die Knie. Ungeheure Muskelstränge definierten den Körper des Jägers. Seine Haare fielen ihm in langen, blonden Locken über den Rücken und gingen in den pelzigen Kamm seines Rückgrats über. Mit gewaltigen Pranken fuhr der Jäger durch den Waldboden. Sein Blick erfasste die beiden Wachen unter ihnen.
»Soma!«, rief Karmash.
Der Jäger antwortete nicht.
»Soma!«
Langsam wandte der Mann den Kopf und sah Karmash aus fahlen Augen an. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, so als würde man einen Wolf anschauen.
»Lass den Mann am Leben. Helena braucht ihn lebend. Hast du mich verstanden?«
Soma antwortete nicht.
»Hast du verstanden?«
Soma sah Coutier an. Der Kundschafter warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Karmash kochte vor Wut.
»Sieh nicht ihn an, antworte mir!«
»Das kann er nicht«, sagte Coutier. »Er hat seine Sprache zum Ruhme von Gallien aufgegeben.
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