Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
Hase. Ohne Ungeziefer drin. Keine Krankheiten – sämtliche Innereien rochen richtig. Er hatte das Tier rasch erlegt, indem er ihm mit seinen Fangzähnen das Genick gebrochen hatte. Das war so am besten, weil der Hase dann nicht litt und das Fleisch nicht verdorben wurde. Jack hatte sich wieder in einen Menschen verwandelt, den Hasen in einem Bach gewaschen und darauf geachtet, ihn angemessen auszuweiden.
Wenn er William besuchte, brachte er immer ein Geschenk mit. Er war auf dem Weg zu dessen Versteck, und William war nicht dazu verpflichtet, ihn hineinzulassen. Es war eine höfliche Geste, ihm etwas mitbringen.
Jack verzog das Gesicht. Höflichkeit lag ihm nicht besonders, wenigstens behauptete das seine Schwester Rose. Andererseits waren William und er immer gut miteinander ausgekommen. Sie waren beide Gestaltwandler, daher blieb manche Selbstverständlichkeit zwischen ihnen unausgesprochen: ein Geschenk mitbringen, die Zähne nicht zeigen, Cerise nicht allzu lange anstarren. Nicht, dass er Cerise auf diese Weise mochte. Sie war Williams Frau, und wenn Jack ihr etwas erklärte, verstand sie ihn auf der Stelle. Wenn er seiner Schwester etwas verklickern wollte, wurde er garantiert von ihr zur Schnecke gemacht.
Und genau das war das Problem.
In dem Spätsommerwald ringsum wimmelte es von Leben. Winzige Eichhörnchen jagten einander durchs Geäst und regten sich lautstark über irgendeine vermeintliche Beleidigung auf. Zwischen den Wurzeln gewaltiger Weird-Eichen flitzten Waldmäuse herum. Schmetterlinge ließen sich wie leuchtende Blütenblätter mit dem Wind treiben. Obwohl Jack im Edge zur Welt gekommen war, gefielen ihm die Wälder im Weird sehr gut. Sie waren alt und mächtig und bargen magische Geheimnisse. Trotzdem vermisste er die Jagd im Edge, wo er auf leisen Sohlen, Moosgeruch in der Nase, über die Äste riesiger Bäume gehuscht war und im Morgengrauen die Tiere des Edge gejagt hatte. Das war das letzte Mal gewesen, dass er sich wirklich frei gefühlt hatte.
Auf den Luftströmungen über seinem Kopf trudelte ein kleiner gelber Schmetterling heran. Jack blieb wie erstarrt stehen.
Auf und ab. Leuchtend gelbe Flügel. Trudelte, trudelte, trudelte …
Jack machte einen Luftsprung und holte mit der Hand nach dem Schmetterling aus. Ha! Erwischt!
Behutsam öffnete er die Finger. Der Schmetterling krabbelte seine Handfläche hinauf und schlug mit den limonengelben Flügeln. Dann erklomm er den Handballen, den Daumen, spreizte die Flügel, segelte davon und hinterließ blassgelben Staub auf Jacks Haut. Jack sah ihm mit merkwürdiger Sehnsucht nach. Nicht, dass er gerne ein Schmetterling gewesen wäre. Schmetterlinge konnten nicht jagen, sie konnten nicht sprechen, und sie lebten nicht lange. Aber sie konnten sorglos herumflattern. Sie mussten sich nicht darum sorgen, auf eine Militärgefängnisschule geschickt zu werden.
Jack seufzte, schnupperte an den Pulverspuren auf seiner Hand – sie rochen trocken und blumig – und ging seines Weges.
Vor vier Jahren lebten er, George und Rose noch im Edge, einem schmalen Landstreifen zwischen dem Broken, in dem es überhaupt keine, und dem Weird, in dem es zu viel Magie gab. Sie wohnten in einem alten Haus. Sie waren arm. Bettelarm. Er wusste gar nicht, wie arm, bis sie ins Weird kamen. Ihre Mutter war gestorben. Jack erinnerte sich kaum an sie, nur schwach an ihren Geruch. Einmal hatte das Parfüm eines Mädchens auf einem Ball so ähnlich gerochen; damals hatte er eine große Leere in seinem Innern gespürt. Er war auf der Stelle von dort verschwunden, hatte sich vom obersten Stockwerk in die Bäume geschwungen und bei seiner Rückkehr am nächsten Morgen hatte er sofort Declans Arbeitszimmer aufgesucht und ihm sein Herz ausgeschüttet.
Ihr Vater war nach dem Tod ihrer Mutter abgehauen. Auch an ihn erinnerte er sich kaum. In seinem Gedächtnis hatte nur seine raue, lustige Stimme überlebt. Ihr Vater hatte nach irgendeinem Schatz suchen wollen und war nie wieder zurückgekommen. Also gab es nur noch ihn, Rose, George und Großmutter. Rose arbeitete dauernd. George und er mussten im Broken zur Schule gehen. George war damals dem Tode nahe gewesen, weil er kein Lebewesen loslassen konnte. Wann immer George ein verendetes Tier gefunden hatte, musste er es wieder zum Leben erwecken – aber dazu hatte er immer mehr von seiner eigenen Lebenskraft hergeben müssen. Kurz vor ihrem Umzug ins Weird hatte George so viele Tiere zurückgeholt, dass er ständig krank
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