Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
auf. Euer Leben bedeutet denen weniger als das einer Stechmücke.«
»Wir sind keine Kinder«, entgegnete George. »Und als du zum ersten Mal getötet hast, warst du 14.«
Er würde Gaston den Mund zukleben müssen.
»Da ging es um eine Familienfehde, um Stolz und Hass und darum, wer am Ende überlebt. Und ich hatte meine Familie. In so einem Verband zu kämpfen ist etwas ganz anderes. Da kommt die Gruppendynamik hinzu.«
Kaldar bog rechts ab und wurde langsamer. Die Grenze packte sie mit stumpfen Zähnen. Die Jungen schnappten nach Luft. Das Auto rollte weiter, der Druck nahm zu, legte sich fest um seine Knochen, im nächsten Moment hatten sie es geschafft. George ächzte.
»Wir sind ein Verband«, fand Jack.
Kaldar seufzte. »Wohl eher eine Rasselbande, und ich der größte Schwachkopf.«
George hustete vorsichtig. »Macht dich das zum Oberschwachkopf?«
Kaldar parkte den Wagen unter einem Baum und klopfte an Georges Schädel wie an eine Holztür. Der Junge verzog das Gesicht.
»Gaston macht das auch immer«, überlegte Jack.
»Die Familienstrafe.« Kaldar stieg aus. »Ihr zwei begleitet mich nach Washington. Ich muss da eine Frau finden. Ihr werdet mir nicht in die Quere kommen. Keine unbeaufsichtigten Extratouren mehr, keine Ausflüge und keinerlei Prügeleien. Ihr tut, was ich euch sage, oder ich binde euch an, packe eure mageren Ärsche auf den Flugdrachen und lasse euch von Gaston gefesselt und geknebelt als Einschreiben bei eurer Schwester abliefern. Alles klar?«
»Alles klar«, antworteten zwei Stimmen unisono.
Als sie den Weg nahmen, sah Kaldar sich das graue Bündel in Jacks Arm an. »Wie geht’s der Katze?«
»Die wird wieder«, antwortete Jack. »Sie braucht nur jemanden, der sich mal ’ne Weile um sie kümmert.«
Tun wir das nicht alle ?, dachte Kaldar. Tun wir das nicht alle ?
4
Helena d’Amry atmete die Abendluft ein. Sie roch nach Wald und Feuchtigkeit. Sie stand an eine hohe Zypresse gelehnt – die Farbe ihres Umhangs entsprach der Borke so perfekt, dass sie praktisch unsichtbar war. Vor ihr verlor sich die durch einen matten Glanz unterteilte Straße in der Ferne: die Grenze.
Helena schloss die Augen und spürte dem beruhigenden Strom der Magie nach. Hier im Edge floss sie nur schwach, viel schwächer jedenfalls als im Herzogtum Louisiana, während sie hinter der Grenze vollends verebbte. Jenseits der Grenze wartete der Tod auf sie. Sie sah die andere Dimension zwar, betreten konnte sie sie jedoch nicht. Sie war ans Edge gebunden. Nur sehr wenige Agenten der Hand konnten das Broken betreten. Die Hunde des Goldenen Throns waren anders gepolt, sodass kaum ein Drittel ihrer Leute die Grenze hatte überqueren können.
Hier regnete es ihr zu viel, es war zu feucht, zu … grün. Auch ihr Anwesen in Louisiana war grün, aber dort unterwarf sich die Natur ihrem Willen, ließ sich von den Gerätschaften ihres Gärtners gestalten, hier herrschte Wildwuchs, wie in einem Urwald.
Trotzdem war sie gerne wieder hier. Sie war im Herzogtum Louisiana aufgewachsen, auf dem Familienbesitz, und obwohl ihre Pflicht sie aus der Kolonie bis in die Hauptstadt des Gallischen Reiches führte, hatte sie ihre alte Heimat vermisst. Die Luft roch hier anders als in den wuchernden Riesenstädten des Alten Kontinents. Sie hatte eigentlich nicht zurückkehren wollen, aber nun musste sie sich um ihren Onkel kümmern. Um der Familientradition gerecht zu werden, war sie in seine Fußstapfen getreten. Ziemlich große Fußstapfen übrigens.
Es gab ein schwaches Geräusch, und sie drehte sich um. Drei Männer kamen aus dem Broken, entspannt trabend, mit einem Bündel im Gepäck. Helena sah zu, wie sie die Grenze überquerten. Sie wurden langsamer. Einer nach dem anderen kamen sie herüber, bahnten sich Meter um Meter ihren Weg, mit entgleisten Gesichtern und unter der Belastung gebeugten Knien. Eine lange, quälende Minute verging, dann hatte es der erste Mann geschafft.
Helena löste sich vom Stamm der Zypresse und trat auf die Straße hinaus. Der Umhang reagierte sofort, die langen, federleichten Fasern zogen sich zusammen. Ohne eine Umgebung, die der Mimikry bedurfte, waren sie schlicht hellbraun, wobei jede Faser dunkler endete.
Das Gewebe bewegte sich im Wind, wie ein Mantel aus Eulenfedern.
Die Männer ließen ihr Bündel auf die Erde fallen.
Links fiel Sebastian neun Meter aus einer Fichte und ging am Boden halb in die Hocke. Jasmine trat hinter dem Baum hervor und zielte mit ihrem Bogen auf das
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