Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
dass die Sicherheitswache vorbeizieht, erst dann bricht man die Tür auf .
Ruhig atmen. Ruhig atmen. Du willst doch nicht etwa auffliegen, oder doch ?
Der Mann schlug seinen Umhang zurück und ließ ihn von seinen Schultern gleiten. Muskelstränge bedeckten den nackten Oberkörper, er hatte kein Gramm Fett am Leib, die braungebrannte Haut hüllte seine Knochen ein, viel zu eng, wie ein Gummihandschuh.
Audrey atmete langsam durch die Nase aus. Eine vertraute Ruhe überkam sie. Sie zwang sich, Muskel um Muskel zu entspannen, bis sie – wie bei einem Rendezvous – neben Kaldar stand und die schöne Aussicht genoss.
Der Agent der Hand wandte sich um, hob die Hände, die jede einen schmalen Krummdolch umfassten. Dann brach auf beiden Seiten unmittelbar über seinen Rippen sein Fleisch auf.
Rings um sie schwelte die abscheuliche Magie und drohte sie zu verbrennen.
Über den Rippen des Mannes entstanden zwei Hautlappen, die aussahen wie Fischflossen. Schwammiges rotes Gewebe wurde sichtbar, feucht und von Blutgefäßen durchzogen.
Jesus Christus .
Der Zauber traf sie mit der Wucht einer Lawine, überwältigte ihre Sinne. Er schlug gegen ihre Haut, kratzte darüber wie eine Messerklinge, brannte heißer und heißer. Dann wurde ihr schlecht. Ihr drehte sich der Magen um. Säure stieg ihr in die Kehle.
Ruhig ! Atmen ! Audrey stand vollkommen reglos, konzentrierte sich aufs Ein- und Ausatmen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich.
Der Mann wandte sich nach links, dann nach rechts, langsam. Das rohe Fleisch an seinen Flanken flatterte wie die Kiemen eines Fischs. Audrey erkannte, dass er Witterung aufnahm. Sie sah Kaldar an. Der Hundesohn lächelte und betrachtete das Monstrum der Hand wie den größten Lutscher im Candyshop.
Die hatten doch alle einen Schaden. Die Hand, der Spiegel, alle.
Der Mann kam einen Schritt näher. Noch einen.
Und noch einen.
Nun standen sie weniger als einen Meter voneinander entfernt. Sie erkannte jede Einzelheit seines Gesichts: das breite, überentwickelte Kinn, die große Nase, dunkle, fast schwarze Augen. Als würde man in die wachen Knopfaugen eines Haifischs blicken, in denen nichts als kalter, gnadenloser Hunger stand.
Der Agent sog die Luft in seine Lungen. Seine Nüstern blähten sich. Dann hob er einen Fuß. Mit dem nächsten Schritt würde er mit ihnen zusammenprallen.
Ein genervtes Knurren ließ sie fast zusammenfahren. Audrey drehte den Kopf kaum einen Zentimeter. Rechts auf einem Ast, gut einen halben Meter über ihnen, fletschte Ling ihre kleinen Fangzähne.
Der Hand-Freak starrte den Waschbären aus toten Augen an.
Ling fauchte und knurrte und stieß ein schrilles Zwitschern aus. Dummer, dummer Waschbär.
Der Mann drehte sich um und trat einen Schritt auf Ling zu. Wenn er ihren Waschbären anrührte, würde sie sich auf ihn stürzen.
Kaldar packte ihre Hand fester.
Sie konnte ihm Ling unmöglich überlassen.
Von rechts ließ sich hinter dem Berg ein langer, durchdringender Schrei vernehmen.
Der Agent der Hand wirbelte herum, den Waschbären hatte er vergessen.
Kaldar zog eine schwarze Schusswaffe unter seinem Sweatshirt hervor. Der Zauber knisterte wie Einpackpapier. Kaldar trat hinter den Freak und drückte ab. Die Waffe krachte. Es regnete Blut und Knochensplitter, und winzige Spritzer menschlichen Gewebes deckten Audrey ein.
Ihr Gehirn weigerte sich, das Geschehen zu verarbeiten.
Der Agent fuhr herum, riss die Augen auf und blieb am Leben. Als Nächstes schoss Kaldar ihm mitten ins Gesicht. Der Freak strauchelte, drehte sich zu ihr: Wo einst seine Stirn gewesen war, klaffte ein rotes Loch. Wie in Trance versetzte ihm Audrey einen Tritt vor die Brust. Der Agent der Hand kippte über den Rand und stürzte in das darunterliegende Tal. Ihr Magen schlingerte, Audrey kotzte ins Gras und zwang sich dazu, sofort wieder hochzukommen. Sie durften keine Zeit verschwenden.
Noch immer versengte sie die wirbelnde Magie. Der Agent war tot, doch sein Zauber fraß sie auf, teilte sich in tausend winzige Zähne, die sich in ihre Haut bohrten, um sich durch ihren Leib zu fressen. Sie rieb sich die Arme, wollte das Gefühl loswerden, aber es gelang ihr nicht.
Wildes Geheul erschütterte den Wald. Die Hand kam.
Der Schuss war zu laut gewesen. »Die wissen, wo wir sind.«
Kaldar schüttelte den Kopf und warf einen Blick in den Abgrund. »Egal.«
Audrey sah nach unten, folgte seinem Blick. Augenblicklich sträubten sich ihr alle Nackenhaare. Ein gewaltiger blauer Drache
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