Land der Sehnsucht (German Edition)
als unfair.“
Die Bemerkung des Pfarrers, die von seinem trockenen Humor zeugte, entlockte den Gemeindemitgliedern ein Lachen. Véronique sah die Ähnlichkeit zu Lillys Persönlichkeit und erkannte, woher das Mädchen seine humorvolle Art hatte. Aber Lilly besaß auch viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter: in ihren Gesichtszügen und in ihrer Haarfarbe. Véronique warf einen verstohlenen Blick auf Hannah Carlson, die neben ihr saß, und freute sich darauf, diese Frau beim Mittagessen in ihrem Haus besser kennenzulernen.
„Aber diese Verteilung von Gaben, egal in welchem Maß, steht genau im Einklang mit Gottes ewigem Plan für jeden von uns.“ Pfarrer Carlson trat hinter dem Rednerpult hervor. Sein Blick wurde überraschend unsicher. „Wir müssen vorsichtig damit sein, wie wir die Gaben von anderen einschätzen, und aufpassen, dass wir nicht eine Gabe über die andere stellen. Ich sehe oft Menschen und beneide sie um ihre Gaben. Oder ich beneide sie darum, mit welcher Leichtigkeit sie sie erwerben und ausüben. Wie Gott ihre Gaben benutzt und sie segnet, übertrifft oft bei weitem das, was er in meinem Leben tut. Und ich kämpfe mit dem Neid und frage mich …“ Er runzelte die Stirn. „Warum sie und nicht ich?“
Véronique konnte kaum glauben, dass er so etwas öffentlich zugab. Sie warf einen verstohlenen Blick links und rechts neben sich, um Hannahs und Lillys Reaktion zu sehen. Aber sie wirkten nicht im Mindesten überrascht oder beleidigt. Ganz im Gegenteil. Stiller Stolz sprach aus ihren Gesichtern.
„In diesen Situationen muss ich mir bewusst machen, dass ich den Weg dieser Menschen nicht gegangen bin. Es kann gut sein, dass ich die Läuterung, die sie ertragen mussten, nicht über mich ergehen lassen musste, und vielleicht ist das der Grund, warum sie mit solcher Stärke und Autorität von Gott auftreten. Sie sind, sozusagen, durch das Feuer gegangen, während ich von den Flammen verschont geblieben bin. Und wir sollten noch an etwas anderes denken: Ich stehe nicht in Konkurrenz zu anderen Menschen. Gott hat einfach verschiedene Aufgaben für uns, für die unterschiedliche Gaben notwendig sind.“
Véroniques Gedanken wanderten zu der Arbeit einer anderen Künstlerin in Paris, die sie sehr bewunderte und mit der sie dasselbe Kunststudio besucht hatte. Berthe Morisots Talent war einfach brillant, selbst wenn die traditionelleren Lehrer anderer Meinung sein mochten. Berthes sorgfältig komponierte, leuchtende Bilder wirkten zart und durchscheinend. Ihre weichen Farbtupfer und die Lichtkontraste waren Techniken, die Véronique hoffentlich eines Tages auch in ihre Bilder einarbeiten könnte.
Pfarrer Carlson schaute sie an, und Véronique fragte sich, ob seine letzten Worte für sie bestimmt gewesen waren. Wohl eher nicht. Er kannte sie doch überhaupt nicht.
Aber hatte sie Berthe nicht oft um ihr Talent beneidet? Hatte sie Gott nicht gefragt, warum Berthe eingeladen wurde, sich der angesehenen Künstlergruppe um Paul Cézanne und Claude Monet anzuschließen, während ihr diese Einladung versagt geblieben war?
Pfarrer Carlson schüttelte den Kopf. „Ich wünsche mir zwar die Gaben von anderen, aber ich möchte doch nicht mit ihnen tauschen. Die Hand des großen Töpfers hat sie zu dem geformt, was sie heute sind. Und ich beneide sie bestimmt nicht um die unzähligen Stunden, die sie auf der Töpferscheibe Gottes verbracht haben. Doch genau das hat es ihnen vielleicht erst ermöglicht, diese Gaben zu entfalten.“
Er verließ die Kanzel und trat näher an seine Gemeinde heran. Véronique fand auch das ein wenig ungewöhnlich.
„Wenn wir Not und Schmerz leiden, wenn das Leben nicht so läuft, wie wir es uns erhofft hatten, was tun wir dann? Machen wir Gott Vorwürfe? Halten wir ihn für grausam und unfair?“ Er nickte, und Véronique sah, dass andere ebenfalls zustimmend nickten. „Ich gebe zu, dass ich gelegentlich genau das gedacht habe.“
Er schaute kurz nach unten. Als er den Kopf wieder hob, war seine Miene nachdenklicher geworden. „Vor kurzem bin ich einem Menschen begegnet und staunte darüber, wie Gott einige furchtbare Dinge, die im Leben dieses Menschen passiert waren, benutzt hat, um ihn zu formen und durch ihn viele andere zu segnen.“
Der Blick des Pastors richtete sich auf jemanden, der einige Reihen hinter Véronique saß, und es kostete sie große Selbstbeherrschung, sich nicht umzudrehen und zu schauen, wem seine Aufmerksamkeit galt. Aber die Höflichkeit erforderte, das
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