Land der Sehnsucht (German Edition)
dessen, was dieser Mann in seinem Leben wahrscheinlich schon alles erlebt hatte. Sie hatte den deutlichen Eindruck, dass er sie für unerfahren und hilflos hielt. Das war für sie Motivation genug, den Sitz loszulassen. Fast.
Sie lockerte ihren Griff.
Er lenkte den Wagen um einen großen Felsen auf der Straße herum, bevor er sie wieder anschaute. „Höhenangst.“
Sie blickte weiter geradeaus.
„Sie haben Höhenangst. Das macht nichts, Madam.“ Sie fühlte, dass er sie beobachtete. „Das ist nichts, wegen dem man sich schämen muss.“
Sie verzog leicht das Gesicht. „Das ist nichts, dessen man sich schämen muss.“
„Wie bitte?“
Sie ignorierte das belustigte Funkeln in seinen Augen. „Mir ist aufgefallen, Monsieur, dass Sie in Ihren Sätzen manchmal die Grammatik nicht richtig benutzen, die die Regeln Ihrer Sprache vorschreibt.“
„Sie nehmen mich auf den Arm, oder?“ Seine Aufmerksamkeit wanderte wieder zur Straße.
„Das ist kein Grund, beleidigt zu sein.“ Sie zuckte mit den Achseln und schaute zu, mit welcher Leichtigkeit er die Zügel hielt. „Mir ist das egal. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, weil ich dachte, es interessiert Sie vielleicht.“
„Sie legen viel Wert auf Regeln, was?“
„Pardonnez-moi?“
„Die Regeln.“ Er zog die Augen leicht zusammen und konzentrierte seinen Blick weiterhin auf die Straße. „Für Sie ist es sehr wichtig, die Dinge so zu machen, wie andere sagen, dass sie gemacht werden müssen. Das stört mich nicht. Es ist mir egal. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, weil ich dachte, es interessiert Sie vielleicht.“
„Haben Sie Spaß mit mir, Monsieur Brennan?“
Sein Lachen war herzhaft und laut. „Ich glaube, Sie wollten sagen: ‚Machen Sie sich über mich lustig?‘, Mademoiselle Girard.“ Er zog die Zügel an. „Und nein, Madam. Ich mache mich nicht über Sie lustig.“
Er zeigte auf etwas.
Sie folgte seinem Wink und sah, dass sie an einer Stelle gehalten hatten, an der das Wasser des plätschernden Bachs ruhig dahinfloss. Kein einziger Windhauch bewegte die Bäume. Die Wasseroberfläche war beinahe regungslos und spiegelte den Berg, der sie überragte, erstaunlich detailliert wider.
„Très belle“, flüsterte sie. Zum ersten Mal seit Monaten regte sich in ihr der leichte Wunsch, einen Stift oder Pinsel in die Hand zu nehmen, um diese Schönheit einzufangen. Sie erinnerte sich an das Gefühl ihrer Malerutensilien in der Hand, daran, wie sich die Pinsel und Stifte zwischen ihre Finger und an ihre Handfläche schmiegten und zu einer Verlängerung dessen wurden, wer sie war.
Doch dann fiel es ihr wieder ein: Die Gabe war ihr weggenommen worden – davon war sie fest überzeugt. Und genauso schnell wie dieser Wunsch gekommen war, verblasste er wieder.
Ihr Blick wanderte am Rand des friedlichen Wassers entlang zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und plötzlich zog sich in ihrem Inneren alles schmerzlich zusammen. Die Wegstrecke, die sie gerade zurückgelegt hatten, sah aus dieser Perspektive unglaublich schmal aus.
„Monsieur Brennan, Sie haben sich gerade über mich lustig gemacht, nicht wahr? Um meine Gedanken von dem steilen Abhang abzulenken.“
Sie sah seine Antwort zuerst in seinen Augen. „Sie haben mich auch schon einmal gerettet, Mademoiselle. Ich dachte, ich könnte Ihnen ebenfalls einen Gefallen tun.“
Diese einfühlsame Geste rührte sie an. „Das war sehr großzügig von Ihnen.“ Sie lächelte und ein unerwarteter Schalk begleitete ihre Erleichterung. „Obwohl ich finde, dass meine Rettungstechnik etwas freundlicher war als Ihre.“
„Das mag sein, Madam.“ Seine Stimme war überraschend leise. „Aber da ich im Gegensatz zu Ihnen schlecht Ihre Hand nehmen konnte, wenn Sie den Sitz so fest umklammern, war meine Technik sicherer. Aus vielen Gründen.“
Sie starrte in sein Gesicht, über das ein zögerliches Lächeln zog. „Ah! Ganz ähnlich wie die Situation mit meinem Kleid.“
Er erwiderte ihren Blick noch einen Moment länger, dann nickte er. „Ja, Madam, etwas in der Art.“ Er sprang ab und wartete, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
Ihr gefiel die Art, wie er sie festhielt, als er ihr nach unten half. Fest und sanft, aber seine Hände blieben nicht unnötig lang auf ihrer Taille liegen, wie sie es schon oft bei anderen Männern erlebt hatte. Sie dachte wieder an das, was er heute Morgen zu ihr gesagt hatte. „… ihre Reaktion, wenn sie eine Frau wie Sie sehen …“
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