Land des Todes
tun hatte, was man ihr beibrachte. Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, als einige ihrer Freunde, vorwiegend Kinder von Landbesitzerfamilien aus der Nähe, begannen, mich zu hänseln. Sie meinten, ich sei nur eine Magd und sollte nicht mit ihnen spielen dürfen. Außerdem machten sie sich über meine Kleider lustig und hielten sich die Nasen zu, um zu veranschaulichen, wie sehr ich stank. Ich war ein schüchternes Kind und gänzlich außerstande, mich gegen ihre Schmähungen zu verteidigen.
Während ich in Tränen aufgelöst dastand, schäumte Lina vor Wut. »Fein, dass so etwas von dir kommt, Kinrek Thomas«, sagte sie und zeigte verächtlich auf meinen Hauptpeiniger. »Letzte Woche mussten wir dich nach Hause bringen, weil du dir in die Hose gepinkelt hattest! Und Maya, ich habe Anna noch nie mit Rotz auf der Brust gesehen, wie es bei dir der Fall war, als du letztens geniest hast. Anna ist sauberer als ihr alle zusammen. Und mit ihr hat man sechs Mal mehr Spaß!« Letztere Aussage entsprach nicht ganz der Wahrheit. »Ich rede nicht mehr mit euch, bis ihr euch entschuldigt. Ihr seid alle Schweine .« Damit ergriff sie meine Hand und begleitete mich nach Hause, wo wir den ganzen Nachmittag lang Dinge spielten, die ich am meisten mochte, obwohl ich wusste, dass sie Lina zu Tode langweilten.
An jenem Tag gewann Lina meine ewige Loyalität. Ich bekam meine Entschuldigung, und ich wurde von diesen Kindern nie wieder aufgezogen. Ich brauchte eine Weile, um unseren Spielgefährten zu verzeihen, doch für Lina war der Vorfall erledigt, nachdem sie sich entschuldigt hatten, und sie ließ ihnen gegenüber keinerlei Feindseligkeit erkennen. Zu ihren Tugenden als Kind – obwohl sich das später ändern sollte, was ich ihr nie zum Vorwurf machte – gehörte, dass sie nie einen Groll gegen jemanden hegte und jene nicht verstand, die es taten. Das stellte einen weiteren Grund dafür dar, dass ich ihr alle Übergriffe verzieh. Es war ihr am wenigsten nördlicher Wesenszug: Im Norden wird Hass über Generationen der Blutrache geschürt, als wäre er ein kostbares Familienerbstück.
Wir Kinder behandelten Lina, als wäre sie ein gefährliches Naturereignis wie das Meer: Wir behielten sie aufmerksam im Auge und ergriffen die Flucht, wenn sie garstig wurde. Wenn sie gute Laune hatte, hatte man mit niemandem mehr Spaß als mit ihr: Sie führte uns bei Schabernack an, sogar die Jungen, denn sie erfand die besten Spiele und war die Wagemutigste von uns allen. Wir alle bewunderten ihre Furchtlosigkeit, und ihre Großzügigkeit rang uns tiefempfundene Loyalität ab. Als wir einmal dabei erwischt wurden, wie wirim Obstgarten eines Nachbarn Pflaumen stibitzten, trat Lina vor, nahm für uns alle die Schuld auf sich und überredete den wütenden Mann, den Rest von uns gehen zu lassen. Zum Dank dafür erhielt sie eine Tracht Prügel. Doch der Nachbar habe, wie sie uns später kühl erklärte, nicht annähernd so kräftig zugeschlagen, wie er es bei uns getan hätte, weil sie nun einmal die Tochter von Lord Kadar war.
Dennoch blieb sie gebieterisch und eigensinnig. Vermutlich war dies die Kehrseite ihres Mutes. Meine Mutter bemühte sich redlich, ihre Ecken und Kanten zu glätten und ihr ein Gefühl für weibliche Sittsamkeit zu vermitteln, doch dies wurde von Linas Vater vereitelt, der sie verhätschelte und verwöhnte und den sie mit einer Inbrunst vergötterte, die durch seine häufige Abwesenheit nur verstärkt wurde.
Eines Tages kehrte Lord Kadar von einer langen Reise zurück. Wie es bei uns Sitte war, versammelten wir uns alle mit ernsten Mienen im Esszimmer, um ihn zu Hause willkommen zu heißen. Nachdem er Geschenke verteilt hatte, hob er Lina auf sein Knie und küsste sie auf die Wange. Sie errötete vor Freude und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Er schlang einen Arm um sie und verkündete, als spräche er über das morgige Frühstück, dass wir zurück in den Norden nach Elbasa ziehen würden. »Sobald alles gepackt ist«, sagte er, »will ich für den Sommer zurück in der Heimat sein.«
Sogleich entbrannte ein verblüfftes Stimmengewirr. »Aber was ist mit Lina?«, wollte meine Mutter wissen und schnitt mit ihrer Frage durch den allgemeinen Tumult. Es war bezeichnend für sie, zuerst an Lina zu denken, obwohl ich immer gespürt hatte, dass sie Heimweh nach dem Norden und ihrer Familie hatte, die sie zurücklassen musste, als der Master vor Jahren mit uns in den Süden übersiedelte. »Was wird aus Lina?«
Der Master
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