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Land des Todes

Land des Todes

Titel: Land des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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herrschte wegen des Todes ihrer Mutter und des Wahnsinns ihres Vaters helle Aufregung, weshalb dem mutterlosen Würmchen kaum jemand außer meiner Mutter Beachtung schenkte. Erst in ihrem sechsten Lebensmonat erlangten ihre Augen ihre endgültige Farbe und verrieten ihr wahres Wesen. Wäre sie die Tochter eines anderen Mannes als Lord Kadar gewesen, hätte man sie sogleich nackt am Hang des Hügels zum Sterben ausgesetzt, und ihr kleiner Leichnam hätte die Krähen genährt, wie es der jedes anderen weiblichen Säuglings in diesem Landstrich tut, der als Hexe geboren wird. Doch zu dem Zeitpunkt war Lord Kadar mit seinem Haushalt bereits nach Süden gereist und sagte, er wolle eher verflucht sein, als seine einzige Tochter aufgrund eines düsteren Hochlandaberglaubens zu töten. Später meinte jemand eingedenk dieser Worte, wenn Lord Kadar nicht verdammt sei, dann auf jeden Fall seine Tochter.
    Das Anwesen im Süden besteht aus einem kleinen Grundstück am Meer, das ein wenig Bekanntheit wegen seines Weines erlangt hat. Dorthin zog sich der Haushalt zurück, bisLina und ich neun Jahre alt waren. Wir verbrachten einige der glücklichsten Stunden damit, in jenem niedrigen, weitläufigen Haus mit seinen von Ranken überzogenen Veranden und roten Terrakottadächern zu spielen, zwischen den auf dem Hof scharrenden Hühnern und Pfauenhennen umherzutollen oder in der kleinen, halbmondförmigen Bucht zu schwimmen, die hinter dem Garten liegt. Meine Mutter kümmerte sich um Lina, als wäre sie ihre eigene Tochter, und behandelte sie nicht anders als mich; und der Master verhielt sich uns allen gegenüber freundlich, wenngleich er oft fort war und mir eine gewisse Ehrfurcht einflößte. Wenn er von seinen Reisen Leckereien mit nach Hause brachte, vergaß er mich nie. Ich erinnere mich daran als eine herrliche Zeit, erfüllt von Sonnenschein und Gelächter, obwohl mir mein Gedächtnis dabei zweifellos Streiche spielt. Jedenfalls war ich ein zufriedenes Kind, und ich denke, für Lina war es der einzige sorgenfreie Abschnitt ihres Lebens.
    Linas Wesen kam von Kindesbeinen an zum Vorschein. Wir alle wussten, dass sie eine Hexe war, was im Süden, wo man Hexen nicht tötet, als nicht so schlimm galt, doch sie ließ keine frühen Anzeichen von Magie erkennen. Ihre Augen allerdings, die das kräftige Violett der als Hexen Geborenen besaßen, ließen sich nicht verbergen – sie waren groß und leuchtend, umgeben von dichten, langen Wimpern. Lina war ein schrecklich bezauberndes Kind, aber ach so eigensinnig! Bei allem, was ihr widerstrebte, verlor sie im Nu die Beherrschung. Manchmal brüllte sie vor Raserei, bis sie sich übergab und den gesamten Haushalt in Angst und Schrecken versetzte; dann jedoch verzog sich der Sturm ohne Vorwarnung, und sie blieb fröhlich und folgsam zurück, als wäre nichts geschehen.
    Sie konnte grausam sein, doch irgendwie nie auf persönliche Weise. Einmal setzte sie sich auf mich, um mich zu Boden zu drücken, und brach mir den kleinen Finger, indem sie ihn über meine Hand zurückbog. Ich erinnere mich nochan den Ausdruck, den sie dabei im Gesicht hatte: neugierig und aufmerksam, als wollte sie lediglich sehen, was passieren würde. Ihre Bestürzung über das dramatische Ergebnis mutete geradezu komisch an, als wären meine Schreie und der darauffolgende Aufruhr das Letzte gewesen, womit sie gerechnet hatte – meiner Mutter erzählte ich nicht, wie es sich zugetragen hatte, wenngleich sie einen Verdacht hegte.
    Am Tag darauf forderte mich Lina auf, ihr den kleinen Finger zu brechen, um das auszugleichen, was sie getan hatte. Sie sah mich ungewöhnlich ernst dabei an und legte eine Hand flach auf den Boden. »Es ist ganz leicht, du ziehst ihn einfach so zurück. Ich verspreche dir, ich werde dich nicht daran hindern.« Zu ihrer Überraschung schrak ich vor ihrem Angebot zurück, und sie bedrängte mich, bis wir beide allmählich zornig wurden. Als ihr klar wurde, dass ich es wirklich nicht tun würde, wirkte sie kurz verletzt, dann zuckte sie mit den Schultern und lachte. »Du bist seltsam, Anna«, meinte sie. »Es wäre nur gerecht. Aber wenn du nicht willst, kann ich dich nicht dazu zwingen.«
    Vermutlich stellt es keine Überraschung dar, dass Linas kindliche Vorstellung von Gerechtigkeit durch die Vendetta geprägt war: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Finger um Finger. Allerdings konnte sie, wenn sie davon überzeugt war, etwas sei ungerecht, auf unerwartete Weise darauf reagieren, die nichts damit zu

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