Land des Todes
unkonventionelles Betragen gefasst zu sein. Doch mir war auch gesagt worden, dass sie, nach ihren eigenen Maßstäben, Menschen von striktem Anstand waren und sich an die Gesetze des Buches hielten. Damek hingegen schien völlig gesetzlos zu sein und sich lediglich an die Regeln seiner eigenen Tyrannei zu halten. Hatte man mir nicht erzählt, er sei mit dem König verwandt? Bedeutete dies, dass er sich für erhaben über die rauen Gesetze dieses Landstrichs hielt? Wie ließ sich sein ungezügeltes Verhalten erklären? Und die beharrlichste Frage: Wer war die Hexe in dem Spiegel? Sofern ich sie mir nicht im Fieberwahn eingebildet hatte, was ich mittlerweile halb geneigt war zu glauben …
Zumindest das Rätsel um Dameks aufgebrachte Rufe nach seiner Frau in jener schaurigen Nacht hat Anna gelöst: Wie sich herausstellte, ist jene Lina, die ich in dem Bauernhaus traf, in Wirklichkeit die Tochter der Frau, nach der Damek mit solcher Inbrunst rief und die seit Langem tot ist. Die Verwirrung entstand, da es hier Brauch ist, das älteste Kind nach der Mutter oder dem Vater zu benennen, je nach Geschlecht. Darüber hinaus ist Anna überzeugt davon, dass die Hexe, die ich im Spiegel sah, keine Einbildung war, was ich mir in der Zwischenzeit halb eingeredet hatte, sondern der Geist der älteren Lina – ein Gedanke, der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ, sofern es möglich ist, jene Erinnerung mit noch mehr Grauen zu überfrachten.
Nun, da ich nicht mehr in Gefahr schwebe, ist die ausgeprägteste Empfindung, die ich verspüre, eine starke Neugier. Ich habe beschlossen, Anna über Damek auszufragen. Sie hat ihr gesamtes Leben an diesem Ort verbracht und muss demnach seine Geschichte kennen. Ich erinnere mich noch daran, wie sie den Vorschlag, meinen Pächter zu besuchen, abwehrte, und ich fürchte, dass eine natürliche Verschlossenheit sie davon abhalten könnte, die Geheimnisse dieses Landes einem Außenstehenden wie mir preiszugeben. Andererseitsgibt sie sich seit meiner Rückkehr wesentlich mitteilsamer. Ich vermute, sie könnte der Ansicht sein, ich hätte durch die Wunden an meinem Bein das Recht erlangt, meine Neugierde zu stillen.
II ∗ A NNA
I
Viele Menschen behaupten, Lina sei böse geboren worden. Sie tun ihr unrecht: Lina war so unschuldig wie jeder Säugling, wenn er zum ersten Mal die Augen öffnet, und in ihr glomm ein Funke, der bis zuletzt unschuldig blieb. Wenn sie niederträchtig war, dann nur, weil die gnadenlose Welt sie dazu gemacht hatte. Dennoch ließ sich nicht bestreiten, dass unheilvolle Vorzeichen ihre Geburt begleiteten.
In der Nacht, als sie zur Welt kam, herrschte eine Mondfinsternis, und ein Komet zog seinen strahlenden Schweif über den dunklen Himmel. Letzterer blieb eine Woche lang sichtbar, und sein Leuchten wurde jede Nacht schwächer, während die frischgebackene Mutter erkrankte und an Blutvergiftung starb. Sie gab Lina ihren Namen und stillte sie das erste Mal, doch danach war sie zu sehr damit beschäftigt zu sterben, um regen Anteil an dem Kind zu nehmen.
Die Obhut über Lina fiel meiner Mutter zu, die kurz zuvor mit mir darniedergekommen war und genug Milch für uns beide hatte. Meine Mutter, die, so wie ich, Anna hieß, war damals frisch mit meinem Vater vermählt, einem Stallknecht und Landarbeiter im Dienste des Haushalts; nach Linas Geburt wurde sie rasch zur Oberwirtschafterin befördert, eine Stelle, die sie den Rest ihres Lebens innehatte.
So begab es sich, dass Lina und ich Milchschwestern wurden. Als Kinder spielten wir zusammen, bevor mich die Pflichten des Haushalts dieser Zweisamkeit entrissen und mir klargemacht wurde, dass sie von edlem Geblüt sei, ich hingegen nur der Bedienstetenklasse angehörte – wenngleich selten von Lina selbst, die trotz all ihres Stolzes auf derlei Dinge niemals achtete. Trotzdem setzte sich unsere Freundschaft bis zu ihrem Tod fort. Es bestand also eine Nähe zwischen uns, zumeist nicht jene zwischen einer Dienerin und einer Herrin,sondern eine, die an ein Verwandtschaftsverhältnis erinnerte. Ich muss gestehen, jene Vertrautheit war Herausforderung wie Freude gleichermaßen. Ich liebte sie innig, nicht zuletzt, weil ich außer Lina keine eigenen Schwestern oder Brüder hatte; und ich gehörte zu den wenigen Menschen, an denen ihr etwas lag. Doch mit dieser Liebe ging auch Kummer einher.
Linas Vater, Lord Georg von Kadar, war ein entfernter Vetter des Hochlandkönigs und somit ein Nutznießer der königlichen Steuern,
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