Land des Todes
woher ein Großteil des Reichtums der Familie rührte. Ich sollte erklären, dass sich das Königtum im Hochland vom Adel im Süden unterscheidet – zum einen ist es älter, und seine Abstammung reicht bis in die dunklen Jahre und, so behaupten Legenden, sogar noch weiter zurück, bis hin zu Judas Ischariot höchstpersönlich, dem Erzverräter an Jesus, unserem Herrn. Man sollte meinen, dass eine solche Herkunft einer so stolzen Familie zur Schande gereicht hätte, und sie ist – vermutlich aus einem Gefühl des Anstands heraus – nicht in der Ahnentafel der königlichen Familienbibel vermerkt. Das sah ich einst mit eigenen Augen, als ich die Aufgabe hatte, sie abzustauben. Andererseits befindet sich in der alten Kapelle der Manse – nicht in der Kapelle, die für die regelmäßige Gottesverehrung verwendet wird und weit prunkvoller ist – unmittelbar über dem Altar ein erlesenes Buntglasfenster, das zweifelsfrei Ischariot zeigt. Er steht mit zu Boden gerichtetem Blick da. In einer Hand hält er den Beutel, der die dreißig Silberstücke hält, für die er Christus verraten hat, von der anderen baumelt das Seil, mit dem er sich erhängt hat. Auf dem Steinsockel, auf dem er steht, prangen die Worte: »Fehler sind der Weg zu Gott.«
Einige Ketzer meinen, Ischariot sei der wahre Christ, weil die Menschheit durch seine Verwerflichkeit und seinen Verrat vom Heiland erlöst wurde, und weil Gottes Wille ohne seine Taten nicht geschehen wäre. Sie sind schockiert? Es gab einst einen Kult, der dies glaubte, und es könnte ihn nach wie vorgeben; die meisten seiner Anhänger wurden von der Inquisition verbrannt, aber auf dem Plateau, fernab der Augen der orthodoxen Kirche, könnte er durchaus noch bestehen. Solche Dinge sind hier ohne Weiteres möglich. Und ob diese Blutlinie nun existiert oder nicht, die königliche Familie des Nordens betrachtet sie als echt; was vermutlich genauso viel über sie und ihren Wohlstand aussagt wie das, was ich erzählen könnte – vor allem über ihren verdorbenen Stolz und ihre düstere Schande, die so untrennbar miteinander verflochten sind wie zwei sich paarende Nattern. Wenngleich, was nie laut ausgesprochen, aber manchmal gedacht wird, es viele Gründe gibt, weshalb man sie für verflucht halten könnte, wobei ihre Herkunft noch der geringste ist.
Linas Mutter, die Lina Usofertera hieß, war die Tochter eines mächtigen Klans, dem die gefürchtetsten Hochlandzauberer angehören. Ihre Ehe mit dem Master war ein Bund der Leidenschaft und höchst undiplomatisch. Es hieß, sie hätte Lord Kadar mit einem Bann belegt; dem Vernehmen nach verhielt er sich jedenfalls wie ein Verhexter, der schimpfte und tobte, bis er seinen Willen und seine Braut bekam. Meine Mutter erzählte mir, dass der Master nach dem Tod seiner Gemahlin wahnsinnig vor Gram war und sich ohne ihr Eingreifen mit eigener Hand getötet hätte. Als er zur Besinnung kam, ging er mit seiner neugeborenen Tochter in den Süden und schwor, er würde nie ins Hochland zurückkehren. Meine Mutter meinte, er hätte immer den Zauberern die Schuld am Tod seiner Frau gegeben.
Natürlich sind die Zauberer, die das Brauchtum durchsetzen, und die Könige, die den Blutzoll erheben, die beiden wichtigsten Kräfte im Schwarzen Land, und man könnte sagen, dass sie viele gemeinsame Interessen haben. In der Praxis jedoch bleiben sie unter sich, und ihre Familien heiraten nie untereinander. Der Master ehelichte Linas Mutter gegen den Wunsch des Königs. Der König verzieh dem Master seinen Verstoß einige Jahre nach Linas Geburt, als er ihn zurückzum Plateau berief, wenngleich seine späteren Handlungen verrieten, dass seiner Vergebung eine gewisse Menge Gift beigemischt war. Auch Linas Mutter widersetzte sich durch die Vermählung ihrer Familie, da die Klans nichts davon halten, ihr Blut mit dem des Königsgeschlechts zu vermischen. Manche, darunter der Master, glaubten, dass ihr Tod im Kindbett die Folge eines Fluches vom Vetter ihres Vaters war, des Zauberers Ezra, der sich am entschiedensten gegen die Ehe ausgesprochen hatte; andere behaupteten darüber hinaus, der Fluch sei ein Pakt zwischen dem König und den Usoferteras gewesen. All diese Gerüchte sind unmöglich auseinanderzuhalten, und die Wahrheit kennt niemand. Dies ist ein Land, in dem Geheimhaltung als oberste Regel gilt, und deshalb gedeihen Gerüchte hier so gut wie nirgendwo sonst.
Als Lina geboren wurde, besaß sie die blauen Augen eines Neugeborenen, und im Haushalt
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