Land Spielen
ihr in den Sinn, dass es dadurch ja vielleicht nicht liebesunwürdig, sondern sogar noch schöner wird.
Zu Hause ist niemand, die Geldverdiener sind bei der Arbeit, der Schlüssel liegt, wo er immer liegt. Ralf geht auf sein Zimmer, Ada weiß nicht, was sie mit so viel leerer Zeit anfangen soll. Sie schleicht erst durchs Haus, geht dann nach draußen und zu den Schafen, lässt sich von der weichen, fettigen Wolle trösten. Die Tiere rupfen weiter Gras, lassen sich von einem kleinen Mädchen, das sich anschmiegt, nicht unterbrechen, und das kleine Mädchen könnte nicht sagen, weswegen sie überhaupt Trost braucht und wo diese umfassende Melancholie auf einmal herkommt.
Ralf vergräbt seinen Kopf im Kissen, sein Kinn schmerzt noch immer, er ist beinahe froh darum, so kann er seinen Bruder noch mehr hassen. Alles hat er ihm versaut, Ralf ist wieder bloß ein Peter Parker ohne Spinnenkräfte. Es fehlt ihm auch an anderen Gaben: Als Erstes möchte er die Zeit zurückdrehen können, dann käme er in die Schule geflogen, dann würde er zeigen, was in ihm steckt, seinen Bruder würde er ins All katapultieren, der Försterssohn wäre beeindruckt. »Psst«, würde Ralf sagen, »verrate niemandem, wer ich wirklich bin!«
*
Im Krankenhaus kommt der Dorflehrer endlich dazu, uns anzurufen. Endlich konnte er den Försterssohn weiterreichen, an Krankenschwestern, an Ärzte. Andreas wählt die Nummer, wartet. Man müsste mehr Leute sein, denkt er. Er denkt es oft in letzter Zeit, aber heute steht es ihm klarer als je vor Augen: Alles bleibt an mir hängen, und nur an mir, Krankentransport und Elternanruf, ich muss Strafaufgabenaufgeber sein und Nachsitzzeitmitabsitzer. Immer ich, immer ich allein. Allein für den ganzen Scheiß verantwortlich. Denkt der Dorflehrer. Und denkt den Kraftausdruck so nachdrücklich, dass er ihn laut aussprechen muss, in den Hörer hinein, aus dem es meditativ und lang gezogen tutet. Verbündete bräuchte man, nicht nur bei Schulhausunruhen, sondern allgemein. Arbeitskollegen. Und richtige Freunde, nicht solche selbstbezogenen, arroganten Eigenbrötler wie Moritz, das hat der nun davon von seinem ewigen Abgrenzen, die Kinder ahmen es nach, kämpfen mit Fäusten statt Floskeln, und wer muss es ausbaden, muss Eltern beruhigen, Kinder zurechtweisen und hier im Krankenhaus herumsitzen, statt Wissen weiterzugeben? Wer kommt an die Kapazitätsgrenze, weil er sich nicht aufteilen kann? Überall brennt es. Und da ist außer ihm nur Christine, und das ist zu wenig.
Christine ist keine Hilfe. Auch wenn er froh ist, dass sie wieder da ist, hat Andreas noch immer Angst, wenn er sie sieht. Aufgekratzt dank Medikamenten auf dem Ecksofa sitzend, wo sich das Elend der letzten Jahre eingegraben haben muss. Christine scheint bloß froh, dass sie noch lebt, lässt Andreas entscheiden, wie es nun weitergeht.
Weg mit dem Ecksofa, weg aus dieser Wohnung, weg in die Stadt, bevor es wieder wird wie immer. Bevor man sich wieder einzurichten beginnt in dieser Warteschleife, wo man es sich schon viel zu wohnlich gemacht hat! Noch drei Monate bis zu den Sommerferien, er sollte endlich die Stelle kündigen, man sollte das Sofa jetzt schon rausschmeißen, sollte es verbrennen, einen Strich unter die ganze Sache ziehen, in die Stadt ziehen, wo mehr Menschen sind! Andreas meißelt den längst gefassten Entschluss in Stein.
Und es tutet und der Lehrer schimpft vor sich hin, denkt an seinen Beruf, an das Dorf, an seine Frau, die ihn gleichzeitig anrührt und ankotzt.
Ralf meldet sich. Der Dorflehrer nimmt sich zusammen, kramt seine strenge Dorflehrerstimme hervor, fragt nach den Eltern.
»Bei der Arbeit. Beide«, ist Ralfs knappe und eingeschüchterte Antwort.
Man müsste mehr Leute sein: einer hier im Aufenthaltsbereich des Krankenhauses, einer im Dorf, der erst bei den Eltern des Besiegten und dann bei denen des Siegers anruft, der den Ersten sagt, sie sollen kommen, den Zweiten, er müsse ein ernstes Wort mit ihnen reden. Und einen Dritten bräuchte es auch noch, der würde dem Schläger Angst und Schrecken einjagen und niemals endende Strafaufgaben erteilen. Dieser Dritte wäre er jetzt am liebsten. Was für ein beschissener Tag!
Und neben all den Lehrpersonen bräuchte es auch noch eine vierte Person, eine, die sich endlich mal um den eigenen Scheiß kümmert, jemand, der eine Wohnung sucht, eine neue Stelle. Der Christine sagt, dass das Leben jetzt wieder weitergeht, dass es jetzt wieder neu anfängt.
In die Stadt und
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