Land Spielen
Schuld.
Fabian und Vera schauen Christine im ersten Augenblick gleichermaßen verblüfft an. Vera geht ein paar Schritte auf sie zu: »Was hat das mit dir zu tun?«
Das Schauspiel, das Fabian beobachten darf, ist eigenartig, die Repliken sind unverständlich, die Gesten und Gesichtsausdrücke bekräftigen allerdings, was er schon immer wusste: dass Erwachsene lügen, dass sie sagen, alles sei gut, dass sie sagen, Christine sei bloß eine Freundin, dass sie behaupten, von Scheidung sei nie die Rede gewesen. Aber am allermeisten lügen sie jetzt, wenn plötzlich alle behaupten, nicht er, Fabian, sei verantwortlich dafür, dass er dem Försterssohn ein für alle Mal eine Lektion erteilt hat.
Christine weint. Veras Miene versteinert. Christine wiederholt, wie leid ihr das alles tue. Vera fragt betont sarkastisch, was denn »das alles« eigentlich beinhalte. Christine sagt, das wisse sie, Vera, doch schon alles längst. Aber es sei nun auch vorbei. »Ich war so selbstsüchtig. Aber ich hatte nie im Sinn, euren Familienfrieden zu stören.«
Vera zieht die Luft ein, das Geräusch ist scharf, selten hat Fabian sie so gesehen, meist lässt sie Streit und Unruhe an sich abprallen. Aber jetzt wird sie laut, sagt mit harter Stimme: »Schön, dass du das so nett erzählst.«
Christine kleinlaut: »Ich dachte, Moritz und du wärt da offen zueinander.«
Vera schaut Christine starr in die Augen: »Um ehrlich zu sein, das kann dich einen Scheiß kümmern.«
Fabian freut sich heimlich, seine Mutter endlich beim Fluchen ertappt zu haben, freut sich, als sie ihn am Arm packt: Endlich darf er dieses Irrenhaus verlassen.
Vera zischt Christine noch ein »Und außerdem: Es geht hier nicht um dich« zu.
Christine flüstert weinend ein weiteres Mal: »Es tut mir so leid.« Auf der Treppe dreht sich Vera ein letztes Mal um: »Und nur, damit das klar ist: Der Familienfrieden ist nicht gestört. Es geht uns gut! Wir haben es gut!«
*
Am nächsten Tag sitzt Fabian wieder am selben Ort, die Nachmittagssonne scheint ins Klassenzimmer. Die Welt spielt sich draußen ab, nur die Fliegen haben noch nicht begriffen, dass hier drinnen nichts zu finden ist außer ein renitenter Schüler, der seine Strafe absitzen muss und der froh ist um die Fliegen, die ihm Gesellschaft leisten, die man jagen und erlegen kann. Mit der flachen Hand sind Fliegen kaum zu erwischen, die überzeugendere Totschlagstrategie hat ihm der Jugoslawe gezeigt: Zeige- und Ringfinger liegen auf der Tischplatte, der Mittelfinger wird mit der linken Hand nach oben gespannt, die Falle schiebt sich von hinten auf die Fliege zu, bis Zeige- und Ringfinger die Fliege flankieren, sie hat überall Augen außer oben, und reglos daliegende Finger scheinen Fliegen nicht zu beeindrucken, die linke Hand lässt den Mittelfinger los, er schnellt nach unten, ist schneller, als Fliegenaugen schauen können, vom Tier bleibt bloß ein dunkler Fleck auf dem Pult übrig. Fabian streicht die Finger wahlweise an der Hose ab oder gleich am Schulheft, in das er Buchstaben malen soll und sinnlose Wörter, die sich wiederholen sollen, bis das Seitenende erreicht ist. Er soll endlich lernen, schöner zu schreiben. Er soll darüber nachdenken, was er getan hat. Auch mit dem Schulpsychologen wurde schon gedroht, aber der wohnt im Hauptort, ist beschäftigt und hat erst morgen Zeit für einen Abstecher nach hier hinten.
Die nächste Fliege setzt auf dem Schlachtfeld auf, saugt mit ihrem Rüssel Schweißreste von Kinderhänden oder Chitinflecken von Ex-Fliegen auf. Fabian betrachtet sein nächstes Opfer, lässt es fürs Erste saugen, jedem steht ein Henkersmahl zu.
Auf dem Nachhauseweg blieb die erwartete Schelte gestern aus, denn Vera blieb stumm, als interessiere sie sich weder für ihren Sohn noch für seine Taten. Zu Hause erwartete Fabian dann allerdings auch kein Lob, Ada warf ihm böse Blicke zu, Ralf verkroch sich in sein Zimmer. Disharmonie ist nicht unsere Stärke, dennoch polterte Moritz los, als er nach Hause kam: Er müsse sich entschuldigen gehen! Er müsse sich erklären. Er müsse Verantwortung für sein Tun übernehmen.
Vera unterbrach: »Das hast du schön gesagt.«
Moritz: »Was soll das heißen?!«
Vera lenkte ab, sagte, sie habe schon beim Förster angerufen, da sei niemand zu Hause, offenbar seien die noch im Krankenhaus. Der Junge müsse über Nacht dableiben, habe Andreas gesagt, Verdacht auf Hirnerschütterung. Fabian hätte gerne nachgefragt, was es mit dem seltsamen Gespräch
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