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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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geschwiegen. Wie hätte er das auch erklären sollen? Sein Bruder war ein Rassist, der fand, dass Nathalie eine Schande für die Familie war. Wie hätte sie wohl auf diese Neuigkeit reagiert? Hätte sie Marius vielleicht plötzlich mit anderen Augen gesehen?
    Draußen auf dem Bahnsteig tauchte ein bekanntes Gesicht auf. Dieser Gothic-Typ mit der schwarzen Kutte, der öfter mit dem gleichen Zug fuhr wie er. Mit Ohrstöpseln und herabhängender Mähne schlurfte er auf die Waggons zu. Marius sah, wie hinter ihm im Treppenaufgang zwei Jugendliche auftauchten. Sie trugen Markenturnschuhe und weite Hosen. Auch die kamen ihm irgendwie bekannt vor. Sie riefen dem Jungen in der Kutte etwas hinterher, woraufhin der die Schultern einzog und so tat, als hätte er nichts gehört. Marius konnte jedoch die Angst in seinem Gesicht erkennen. Die beiden Jugendlichen näherten sich rasch, setzten zum Überholen an und rempelten ihn dabei von beiden Seiten an. Der Junge stolperte von links nach rechts, seine Ohrstöpsel rutschten heraus, er verlor das Gleichgewicht und fiel auf das Pflaster. Die beiden anderen lachten, klatschten sich mit den Händen ab und gingen weiter, ohne sich umzusehen.
    Der Typ mit der Kutte rappelte sich auf, klopfte seine Kleidung sauber und ging dann weiter zu den Waggons, als wäre nichts geschehen. Für ihn schien so etwas normal zu sein. Er steckte sich die Stöpsel wieder in die Ohren und verschwand aus Marius’ Blickfeld.
    Ein typisches Opfer, dachte Marius. So hatten sie in der Schule solche Leute genannt. Für einen Moment fühlte er Mitleid mit diesem Jungen. Doch dann kreisten seine Gedanken wieder um Roland und um die tote Taube. Ein Pfiff ertönte, und der Zug fuhr los. Noch eine knappe Stunde, dann wäre er zu Hause.
    Die zentrale Frage war: Woher kannte Roland Nathalies Adresse? Zuerst hatte Marius natürlich an das Handy gedacht, das er im Konferenzraum liegen lassen hatte. Doch Nathalies Adresse war darin nicht gespeichert, nur ihre Telefonnummer und die E-Mail-Adresse. Außerdem war das Handy passwortgeschützt. Wie sollte es Roland gelungen sein, sich da reinzuhacken?
    Beiläufig hatte er Nathalie nach seltsamen Anrufen oder E-Mails gefragt. Offenbar war da nichts gewesen. Doch das änderte nichts. Es war Roland, der steckte dahinter. Marius musste nur noch herauskriegen, wie er Nathalies Namen und ihre Adresse herausbekommen hatte.
    Nachdem der Schock mit der Taube einigermaßen verkraftet gewesen war, hatten sie gestern noch einen schönen Abend gehabt. Mikey war irgendwann zu einer Party gefahren, und den Rest der Nacht waren sie allein gewesen. Nachdem sie zweimal miteinander geschlafen hatten, saßen sie aufgeheizt im Bett, teilten sich eine Zigarette und begannen, ihre gemeinsame Zukunft zu planen. Berlin.
    »Bei mir ist das mit dem Studienortwechsel kein Problem«, sagte Nathalie. »Ich hab die Unterlagen schon weggeschickt. Wie’s aussieht, kann ich tatsächlich im Wintersemester in Berlin weiterstudieren. Einfach so.«
    »Das ist großartig«, meinte Marius.
    Er hatte sich noch nicht informiert, ob so ein Studienplatzwechsel für ihn überhaupt möglich war. In den letzten Tagen waren da immer andere Sachen gewesen, die wichtiger schienen. Sein Studium interessierte ihn kaum.
    Nathalie betrachtete ihn. »Was ist mit dir?«
    »Keine Ahnung. Es wird schon irgendwie gehen.«
    Dieses Semester hatte er ohnehin verloren. Er steckte mitten in der Klausurzeit, doch bisher hatte er alles geschwänzt.
    »Das Studium ist gerade kein vorrangiges Problem«, sagte er. »Wir gehen einfach nach Berlin und sehen weiter. Es wird schon irgendwie klappen. Und wenn ich noch ein weiteres Semester verlieren würde, wäre das auch nicht weiter schlimm.«
    Am liebsten würde er sein Studium ganz an den Nagel hängen. Er studierte die Fachrichtung ohnehin nur, weil das sinnvoll fürs Unternehmen war. Somit erübrigte sich jetzt alles. Allerdings durfte er nicht leichtfertig handeln. Schließlich musste er von irgendetwas leben.
    »Ich werde mein Examen schon noch machen«, sagte er. »Wenn wir erst in Berlin sind, wird sich ein Weg finden.«
    Nathalie betrachtete ihn skeptisch. Er begriff, wie sich seine Worte anhören mussten, und fügte hinzu: »Wir werden im Herbst in Berlin sein. Fest versprochen. Das ist mir wichtiger als alles andere.«
    Erleichtert schmiegte sie sich an seine Brust und zündete eine weitere Zigarette an. Sie diskutierten, in welchem Berliner Stadtteil man am besten ausgehen konnte.

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