Landgericht
Seite geschoben und selbst alles getippt. Doch heute störte sie sich nicht daran. Sie genoss einfach die Ruhe und die wärmenden Sonnenstrahlen, die den Frühling ankündigten.
Während sie noch darüber nachdachte, was eine Heilpflanze mit vier Buchstaben sein könnte, die auf E endete, öffnete sich die Tür, und ein Schwall kalter Luft wehte herein. Ein junger Mann tauchte auf. Er trug eine schwarze Kutte, zahllose Ketten und ein Palästinensertuch. Die langen Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht, den Blick hatte er stumm zu Boden gerichtet. Hinter ihm erschien ein Mann im mittleren Alter mit strengem Gesichtsausdruck, offenbar sein Vater. Er wirkte sehr entschlossen. Stieß seinen Sohn vor sich her, als wollte er eine Sau zum Schlachthof treiben.
Klaus Benning unterbrach kurz das Tippen, um zu sehen, wer da gekommen war. Doch offenbar interessierte er sich nicht weiter für die beiden Gestalten, denn Sindy hörte, wie seine Finger kurz darauf wieder in unregelmäßigen Abständen auf die Tastatur hämmerten. Sie legte die Zeitung beiseite, stand auf und zog das Hemd ihrer Uniform zurecht. Dann trat sie an den Wachtresen.
»Guten Tag«, sagte sie. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Sohn hat Ihnen etwas mitzuteilen«, stellte der Mann fest. »Nicht wahr, Michael? Das hast du doch.«
Der Junge im Gothic-Look schaffte es kaum, den Blick zu heben. Selbstanzeige bei Ladendiebstahl, vermutete Sindy. Sein alter Herr hatte ihn erwischt und zur Polizei geschleppt.
»Er war nämlich in dem Zug«, fuhr der Mann jedoch zu ihrer Überraschung fort. »Im letzten Sommer, Sie wissen schon. Als der Unternehmersohn totgeschlagen wurde.«
»Marius Baar?«, fragte Sindy perplex.
Natürlich erinnerte sie sich. Am Landgericht wurde den Tätern gerade der Prozess gemacht. Aber der Fall war längst abgeschlossen. Und die Täter waren geständig.
»Ganz richtig. Mein Sohn hat Ihnen etwas mitzuteilen«, stellte der Mann fest. »Er hat etwas gesehen.«
»Etwas gesehen? In dem Zug?«
Der Junge schwieg weiterhin. Dafür erntete er einen harten Stoß mit dem Ellbogen. Schließlich sah er ängstlich zu Sindy auf und räusperte sich.
»Das waren nicht die Angeklagten«, sagte er.
»Was waren die nicht?«, fragte Sindy. »Haben die Marius Baar nicht überfallen und geschlagen?«
»Doch, schon. Aber sie haben ihn nicht getötet. Denn als der Zug losgefahren ist, da lebte er noch. Ich hab’s genau gesehen.«
17
Nachdem Hambrock seinen Vortrag beendet hatte, wurde es still im Raum. Staatsanwalt Josef Wübken saß unbewegt da. Er sah die beiden Kommissare träge an. Sein Kopf war umrahmt von den welken und zerrupften Zimmerpflanzen, die hinter ihm auf der Fensterbank standen. Seine ohnehin herabhängenden Gesichtszüge schienen noch mehr unter der Schwerkraft zu leiden als sonst.
Als er jedoch schließlich zu sprechen begann, klang seine Stimme erstaunlich fest und entschlossen. Sein Geist war rege, auch wenn man Wübken das nicht immer ansah.
»Und damit kommen Sie jetzt?«, polterte er. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.«
»Es tut uns leid, Herr Wübken«, sagte Hambrock. »Wir haben uns den Zeitpunkt nicht ausgesucht.«
»Der Zeitpunkt ist tatsächlich großartig. Heute werden die Schlussplädoyers gehalten. Gleich nach der Mittagspause. Und danach zieht sich das Gericht zurück, um morgen früh das Urteil zu sprechen.«
Es wurde wieder still im Raum. Hambrock betrachtete die filigran verzierte Porzellantasse, die vor ihm auf dem Besuchertisch stand. Er hatte sie noch nicht angerührt. Der Kaffee darin wurde langsam kalt.
»Ist dieser Zeuge denn seriös?«, wollte Wübken wissen.
»Er ist Schüler am Gertenbecker Gymnasium. Er war in der Tatnacht im Zug. Und er schwört, Marius Baar habe noch gelebt, nachdem die Angeklagten geflohen sind.«
Wübken zog die geblümte Porzellanzuckerdose heran und schaufelte sich trotzig Unmengen von Zucker in den Kaffee. Hambrock betrachtete die altmodische Decke, die auf dem Besuchertisch lag. Zwischen den aufgestickten Rosenstöcken wimmelte es von Kaffeeflecken und Kekskrümeln.
»Wie kann es sein, dass dieser Zeuge erst jetzt auftaucht?«, fuhr Wübken verärgert fort. »Die Tat liegt ein knappes Jahr zurück. Sie haben doch damals ermittelt. Ich verstehe nicht, wie Ihnen das durch die Lappen gegangen sein kann. Verflucht noch mal. Wie stehen wir denn jetzt da?«
Er rührte kräftig in seiner Tasse.
»Das ist doch nicht normal«, schimpfte er weiter. »Mitten in der Verhandlung.
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