Landgericht
Das wirft wirklich kein gutes Bild auf die Polizeiarbeit.«
»Wir haben diesen Jungen damals befragt«, sagte Hambrock. »Damals hat er gesagt, er habe den Übergriff von seinem Platz aus nicht gesehen.«
»Aber jetzt will er ihn doch gesehen haben? Ein knappes Jahr später? Was soll man denn davon halten?«
»Er hat offenbar damals nichts gesagt, weil er sich aus der Sache heraushalten wollte. Er hatte Angst.«
»Angst? Vor wem denn?«
»Vor den Angeklagten. Und vor deren Freunden. Seinen Mitschülern. Er ging auf dieselbe Schule wie die Angeklagten. Nach dem, was er uns erzählt hat, wurde er an der Schule gemobbt. Streiche, Pöbeleien, ab und zu Prügel. Auch die Angeklagten und deren Freunde hatten es auf ihn abgesehen. Er hatte Angst davor, in die Schule zu gehen. Hat sich aber keinem Erwachsenen anvertraut.«
»Und deswegen hat er gesagt, er habe nichts gesehen? Er hätte sie doch entlastet. Das verstehe ich nicht.«
»Er dachte wohl, am besten sagt er gar nichts zu der Tat. Ihm war nicht klar, dass er sie damit entlasten würde. Er dachte einfach, wenn er gegen seine Mitschüler aussagt, ist er dran. Dann würden die anderen in der Schule ihn fertigmachen. Er glaubte, es wäre das Beste, einfach den Mund zu halten. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Unauffällig bleiben.«
Josef Wübken zog die buschigen Augenbrauen zusammen.
»Ich begreife es immer noch nicht. Es gab ein Handyvideo von der Tat. Auf mich wirkt der Zeuge nicht sonderlich glaubwürdig.«
»Ich kann nur wiederholen: Er hatte Angst. Er wollte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Unauffällig bleiben. Lieber sagen, er habe von seinem Sitzplatz aus nichts gesehen.«
»Und jetzt hat er es sich anders überlegt?«, fragte der Staatsanwalt.
»Sein Vater hat ihm ordentlich ins Gewissen geredet.«
»Aber warum erst jetzt?«
»Die Verhandlung ist in allen Zeitungen. Im Gertenbecker Lokalteil wird jeder Verhandlungstag bis ins Kleinste nachgezeichnet. Die Befragung der Rechtsmedizinerin, die Sache mit dem unbekannten Dritten und so weiter. Der Junge hat seinem Vater erzählt, was er gesehen hat. Und der ist dann mit ihm zur nächsten Polizeiwache.«
Wübken rührte energisch in seinem inzwischen erkalteten Kaffee herum. Schließlich legte er den Löffel auf die Untertasse, und ein weiterer Tropfen landete auf der Tischdecke.
»Dass Ihnen so ein wichtiges Detail entgagenen ist«, sagte er unzufrieden. »Das will mir einfach nicht in den Kopf.«
Hambrock und Keller schwiegen. Darauf gab es nichts zu erwidern. Schließlich stieß Josef Wübken einen langen Seufzer aus.
»Es hilft ja alles nichts«, sagte er. »Ich kann diesen Zeugen nicht wegzaubern. Ich werde mich also mit den anderen Parteien zusammensetzen. Die Verteidigung wird sich freuen, das können Sie sich denken. Das ist Wasser auf deren Mühlen. Und dann müssen wir mal sehen, wie’s weitergeht. Die Verhandlung wird auf jeden Fall unterbrochen.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Stunde vor den Schlussplädoyers. Richterin Schniederjohann wird einen Wutanfall bekommen. Was für eine ausgemachte Scheiße.«
Dass Wübken sich zu so einem Kraftausdruck hinreißen ließ, wunderte Hambrock. Es passte so gar nicht zu ihm.
»Finden Sie heraus, was da dran ist«, sagte er zu den beiden Kommissaren. »Ich möchte, dass diese Sache aufgeklärt wird. Und diesmal richtig. Also, legen Sie schon los.«
Damit war die Unterhaltung offenbar beendet. Wübkens buschige Augenbrauen bewegten sich nach unten, sein Blick verdüsterte sich. Hambrock und Keller standen auf und verabschiedeten sich. Der Staatsanwalt quittierte das mit einem Brummen. In der Tür warf Hambrock einen Blick zurück und sah, wie Wübken schweigend den Löffel nahm und erneut in seinem Kaffee rührte. Dann schloss er die Tür.
»Ich kann ihn ja verstehen«, meinte Keller draußen auf dem Flur. »Das Timing ist denkbar schlecht.«
»Besser jetzt als später«, sagte Hambrock. »Morgen wären die Urteile gesprochen worden. Wegen Totschlag. Wenn nicht gar wegen Mord. Zu Unrecht womöglich.«
»Ja, drei Unschuldslämmer«, kommentierte Keller sarkastisch.
Hambrock ging nicht weiter darauf ein. Sie durchquerten die Flure des Landgerichts.
»Wo fangen wir an?«, fragte Keller.
»Sollte dieser Schüler recht haben«, begann Hambrock, »und Marius hat nach dem Übergriff tatsächlich noch gelebt, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder gab es noch einen Unbekannten, der in Gertenbeck aus dem Zug gestiegen
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