Landy, Derek - Tanith Low - Die ruchlosen Sieben
zurecht und stieß sich vom Dach ab. Die hellen Lichter der Straße verschwammen unter ihm zu Strahlen in Rot und Gelb, die der breite Streifen Dunkelheit in den Hintergrund drängte, als das nächste Gebäude unter seinen Füßen zum Stillstand kam. Er tanzte hinauf, zur höchstmöglichen Stelle, schlug mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Beinen einen Salto rückwärts und fiel dann wie ein Kruzifix. Er beobachtete sich in den Fenstern, während er fiel, dann krümmte er sich, streckte mit einem Ruck die Beine, stieß sich von der Gebäudewand ab und katapultierte sich über die Lücke zu dem Haus auf der anderen Straßenseite. Die Finger in den Zement gegraben, blieb er mit geschlossenen Augen einen Moment so hängen und lauschte auf den Puls der Stadt. In einer Stadt wie Chicago konnte er aufräumen. Alle diese Hochhäuser. Er konnte rennen und springen und kreiseln und tanzen und töten und essen und sich ausleben. Gefahrlos. Sicher. Anonym. Und dann konnte er an Altersschwäche und Langeweile sterben, wenn die Welt bis dahin nicht zerstört worden war.
Jack kletterte aufs Dach, setzte sich an den Rand und ließ die Beine baumeln. Was hatte es für einen Sinn, so lang zu leben, wenn man am Ende nichts vorzuweisen hatte? Was hatte es für einen Sinn, so lang zu leben, wenn man die lange Zeit mit niemandem teilen konnte? Jack hatte nie zu Selbstbetrug geneigt. Er war sich der Tatsachen bewusst, und die Tatsachen sahen so aus, dass er ein abgrundtief hässliches Monster war, das niemand jemals lieben konnte, und dass er für den Rest seines Lebens allein bleiben würde. So einfach war das. So einfach und so unabänderlich.
Als er jünger war, hatte er sich um solche Dinge keine Gedanken gemacht. Er war Stadtgespräch gewesen, Held des Tages, der Schrecken Londons. Er hatte alles gesehen, das meiste davon getan, und was er nicht getan hatte, hatte er gesehen, sodass er zumindest wusste, wovon er sprach. Damals hätte er nie gedacht, dass er einmal an den Punkt kommen würde, an dem er auf einem Dach hockte und sich selbst leidtat. Aber so ist die Jugend. Die Jugend ist dumm.
Jack neigte nicht zu Selbstbetrug und genauso wenig zum Leugnen. Doch da war noch eine Sache, und sie tauchte nun schon seit ein paar Tagen immer mal wieder in seinen Gedanken auf. Er hatte sie nicht konkreter benennen wollen, da er – dummerweise – seine persönliche Würde wahren wollte. Doch jetzt hatte er keine andere Wahl.
Wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal verliebt war, glaubte Jack, dass die kleine Diebin und Schwindlerin Sabine das Beste war, das ihm in dieser bösen Welt je passiert war, in dieser Welt, derer er so müde war und die ihn so langweilte. Sabine war sein Augenstern. Sie war sein Licht, seine Wärme. Wenn er sie sah, musste er lächeln, und wenn sie lächelte, machte ihn das ganz kribbelig. War er in ihrer Nähe, wollte er sie immerzu nur anschauen. War er nicht in ihrer Nähe, wollte er immerzu nur über sie reden. Es war peinlich. Beschämend sogar. Er wäre wütend auf sie gewesen, wenn er nicht so verdammt heftig für sie geschwärmt hätte.
Am Morgen hatte er sich sogar in Tagträumen ergangen. Er hatte sich eine richtige Unterhaltung vorgestellt, bei der sie über seine Scherze gelacht hatte und bei seiner Berührung nicht zusammengezuckt war. Lächerliche, kindische Tagträumereien, und dennoch fühlte er sich dabei so gut und so warm und so voller Hoffnung. Krank, die ganze Geschichte war krank. Krank und falsch. Er war ein Monster, und Monster schwärmten nicht für hübsche Mädchen. Er schätzte sie auf dreißig Jahre. Dreißig Jahre alt und bildhübsch. Ein hübsches Lachen hatte sie außerdem. Es perlte wie Vogelgezwitscher. Besonders hübsch klang es, wenn sie über etwas lachte, das er in seinen Tagträumen sagte.
Jack stand auf und blickte finster über die Stadt. Hört ihn euch an. Hört euch seine Gedanken an. Benahm sich so ein erwachsenes Monster, noch dazu eines, das einen Job zu erledigen hatte? Darauf sollte er sich konzentrieren und nicht auf irgendeinen Rock, für den er gerade mal schwärmte.
Er schlüpfte durch das Fenster, das man für ihn geöffnet hatte, stellte sich an die Tür, hörte die Stimmen auf der anderen Seite und versuchte, sein Haar glatt zu streichen. Mit halb geschlossenen Lidern und lässiger Miene öffnete er die Tür und schlenderte hinein.
„Der Bogen ist im Besitz von Jackie Earl“, erklärte Tanith gerade. Sie saß am Kopfende des Tisches, blickte kurz
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