Landy, Derek - Tanith Low - Die ruchlosen Sieben
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Sie war eine andere, als sie das Dunkel verließ. Sie war älter, klar. Größer. Kräftiger. Stärker. Ihre Eltern hatten sie als Kind dorthin gebracht, und als sie zum ersten Mal wieder ins warme Sonnenlicht blinzelte, war sie neunzehn Jahre alt. Eine Frau. Wieder war ein Weltkrieg im Gang, und sie wusste kaum, wer gegen wen kämpfte. Sie ging nach Hause und saß mit ihren Eltern am Kamin, während Dvorak gespielt wurde. Auf dem Grammofon, wie sie feststellte. Eine Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen. Ihre Eltern kannten sie nicht mehr, und sie kannte ihre Eltern nicht mehr. Es sollte fahre dauern, bevor sie erkannte, dass sie ihnen verzeihen musste, was sie getan hatten, dass sie sie weggeben hatten. Erst danach konnte sie sie wieder lieben.
Kurz nach ihrer Rückkehr mussten sie das Haus wegen der Luftangriffe verlassen. Ihre Eltern gingen nach Schottland. Taniths neue Pflichten als Messer in der Dunkelheit führten sie in eine andere Richtung. Und sie begann, sich wieder mit Musik zu befassen. Doch wie sehr sie sich auch darum bemühte, sie empfand nicht mehr das Vergnügen von früher dabei. Und dann kamen die Fünfzigerjahre und mit ihnen Nina Simone und Elvis und Chuck Berry. Pat Boone versuchte sie zu ignorieren, und sie verspürte wieder einen Funken dieses alten Vergnügens. In den Sechzigern loderte er mit den Beatles und den Stones und langhaarigen Hippies und freier Liebe wieder auf, und sie war mittendrin, eine Vierzigjährige, die aussah wie zwanzig. Voller Magie, mächtig und schön und zum Töten ausgebildet.
Vielleicht war das der Auslöser gewesen. Sich mit Flower-Power-Leuten zu umgeben und auf Vietnam-Demos „Give Peace a Chance“ zu singen, mochte genau das gewesen sein, was den Gedanken in ihr entstehen ließ, dass sie möglicherweise, wenn auch nur möglicherweise, nicht den Rest ihres Lebens damit verbringen wollte, Leute zu töten. Es klebte schon genug Blut an ihren Händen. Wie viele Mörder, Diebe, Verräter und Verschwörer hatte sie bis zu den frühen Siebzigern schon getötet? Sie wollte es gar nicht wissen. Man konnte sie kaum unschuldig nennen, aber das spielte schon lange keine Rolle mehr.
Vielleicht lag es an den Leuten der Flower-Power-Bewegung. Vielleicht an John und Yoko, die tagelang in diesem Bett lagen. Was immer es war, was immer sie zu dem Entschluss führte auszusteigen, es wurde begleitet von Musik. Nicht diese Art Musik, die sie zwanzig Jahre später in dieser Oper hörte, unbemerkt von all den Leuten da unten, und auch nicht die Musik von heute, nicht Nirvana oder Curve oder Jeff Buckley, aber Musik. Led Zeppelin. Black Sabbath. David Bowie. Es gab natürlich Leute, für die Luciano Pavarotti wie Robert Plant war. Vielleicht gehörte der Mann, zu dessen Schutz sie hier war, ja auch dazu. Er saß da drüben in seiner privaten Loge, den Blick auf die drei Tenöre gerichtet. Die Loge war dunkel, und er saß allein dort. Ihr waren nur zwei Dinge über ihn bekannt – wo er heute Abend sitzen würde und dass ihn jemand umbringen wollte. Sie wusste nicht einmal seinen Namen.
Ein Schatten bewegte sich an der Tür hinter ihm vorbei, und Tanith spannte die Muskeln an. Der Schatten kam zurück, verharrte einen Moment und entfernte sich dann wieder.
Tanith erhob sich, kletterte zur Decke des Schnürbodens hinauf und bog ihren Körper so, dass sie die Füße dagegenstemmen konnte. Mit einer Hand hielt sie ihr Schwert fest, damit es nicht aus der Scheide rutschte, und so ging sie kopfunter rasch über die Kuppel zu dem offenen Balkon. Eine Frau in Schwarz stand an der Tür zur Loge der Zielperson, ein Schwert in der Hand. Niemand sonst war zu sehen. Tanith sprang und landete fast geräuschlos auf dem roten Teppich. Doch die Frau in Schwarz hörte sie trotz des Gesangs und wirbelte herum.
Einen Moment lang blickten sie sich an, und die Frau in Schwarz kniff die Augen zusammen. „Euer Hochwohlgeboren?“, fragte sie.
Taniths Herz klopfte zum Zerspringen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Hallo, Avaunt.“
Avaunt entfernte sich einen Schritt von der Tür. „Man hat mir von dir erzählt. Du bist ausgestiegen.“
Taniths Mund war staubtrocken. „Es gibt kein Gesetz dagegen. Mein Bruder hat es auch getan.“
„Noch so ein Verräter. Zwei Schandflecke. Die kleine Miss Hochwohlgeboren. Zu gut für uns andere.“
Als Avaunt näher kam, zog Tanith langsam ihr Schwert. „Ich habe nie wirklich verstanden, woher alle diese feindseligen Gefühle kamen“,
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